Die Arztpraxis (oder Krankenstation) befand sich in einem Beton-Pavillon am Ortsrand von Tesawa. Zunächst bedeutete mir eine Krankenschwester, auf dem Flur zu warten, nach etwa einer Viertelstunde wurde ich dann in das Behandlungszimmer gebeten. Der Arzt, klein, rundliche Figur, graue Haare, war wohl vom Polizeichef schon informiert, worum es ginge. Er machte nicht sonderlich viele Worte, die Untersuchung, er auf seinem Stuhl sitzend, ich vor seinem Schreibtisch stehend, lief – ich schwöre! - genau folgendermaßen ab:
Arzt: „Move your legs“
Ich: Hebe nacheinander rechtes und linkes Bein – soweit es die Schmerzen zulassen. Nicht weit, wie ich glaube.
Arzt: „O.k. Move your arms“
Ich: Hebe nacheinander beide Arme, komme gerade so auf Schulterhöhe.
Arzt: „O.k., Nothing, you`re fine!“
Er kritzelte etwas auf einen Schreibblock und wünschte mir noch einen guten Tag. Sprachlos, und offen gestanden nicht wirklich beruhigt nach dieser Diagnose, verließ ich die Praxis.
Zurück in der Polizeistation, die wohl auch als eine Art Rathaus oder Gemeindeverwaltung diente, wurde ich ein Büro gebracht, in dem der eigentliche Polizeichef (oder eher der Bürgermeister?) residierte, jedenfalls offensichtlich der oberste Chef in Tesawa. Traditionell mit weißem Umhang bekleidet, faltiges Gesicht, weißer Bart, mit seiner gesamten Erscheinung eine große Würde ausstrahlend. Er bot mir Tee und Kekse an, die ich dankend annahm. Von ihm erfuhr ich, dass Arend in der Zwischenzeit aktiv gewesen war: Mithilfe des gut englisch sprechenden Dorflehrers hatte er die Verbringung meines Motorrades in eine Werkstatt veranlasst und brachte wohl gerade unser Gepäck in das gegenüberliegende Schulgebäude, wo wir für die Nacht untergebracht werden sollten.
Dort angekommen nahm ich erst einmal zwei Schmerztabletten aus der Reiseapotheke, dann packte ich, ohne überhaupt zu wissen, ob oder wann mein Motorrad repariert werden könnte, mein Nähzeug aus und begann, den Reißverschluss des Tankrucksacks wieder an die Grundplatte zu nähen – irgendwie musste es ja weiter gehen, und ich versuchte meine Verzweiflung durch Entschlossenheit zu verdrängen. Jetzt erst recht! Außerdem brachte die mühsame Arbeit etwas Ablenkung. Zum Abendessen waren wir dann bei dem leitenden Ingenieur des Bewässerungsprojektes eingeladen, der Dorflehrer und der (vermeintliche) Bürgermeister waren ebenfalls anwesend. Wir saßen traditionell auf Kissen auf dem Boden (schwierig für mich, eine halbwegs schmerzfreie Sitzposition zu finden) und es wurden auf großen Platten zahlreiche Köstlichkeiten serviert. Nach dem Essen wurde die Diskussion mehr und mehr politisch, und gerade der junge Dorflehrer erwies sich als glühender Anhänger Ghadafis. Immer wieder zitierte er dessen „Grünes Buch“, eingeleitet jeweils mit den Worten „Our Leader told us...“. Wir fühlten uns etwas unwohl und versuchten, in unseren Antworten so diplomatisch wie möglich zu bleiben.
Die Nacht war für mich eine überwiegend schlaflose: Der Körper konnte keine wirklich schmerzfreie Lage finden, der Geist wollte einfach keine Ruhe geben, ständig kreisten die Gedanken um den Unfall und die Folgen. Wie würde mein Motorrad am nächsten Tag aussehen? Nach einem schnellen Frühstück führte mich mein erster Weg deshalb auch gleich in die Werkstatt, wo die Mechaniker die halbe Nacht fleißig gewesen waren: Der Kofferträger und die gebrochene Lenkerstrebe waren geschweißt, der Lenker selbst zumindest halbwegs gerade gebogen. Die Verkleidung war mit Draht geflickt. Ebenso der Handprotektor mit Draht wieder befestigt. Der Auspuff nach außen gebogen, der Blinker „geschient“. Als ich auf den Hof der Werkstatt kam, wurde gerade noch – eigentlich rührend – mit gelber Farbe der Cockpit-Bügel ausgebessert. Was mich dann aber wirklich tief gerührt hat und meine Verzweiflung vom Vortrag endgültig in Zuversicht verwandelt hat, war der Anblick dieses kleinen Mädchens, das mich und mein Motorrad mit großen Augen und einer Mischung aus Neugierde und Erstaunen beobachtet hat:

Die Reparatur kostete mich (umgerechnet nach unserem Schwarzkurs aus Tripolis) ca. 40 DM, ein mehr als fairer Preis für die Nachtschicht. Ich fuhr zur Schule, wo wir die Motorräder bepackten um uns dann von unseren Helfern zu verabschieden, nicht ohne uns noch zigfach zu bedanken. Dann ging es auf der Asphaltstraße zunächst nach Murzuq. Das Fahren war eine Herausforderung: Erstens schmerzte der Rücken immer noch gewaltig, zweitens war der Lenker eben immer noch etwas krumm, was zu einem sehr merkwürdigen Fahrgefühl führte. Ich sollte mich aber noch daran gewöhnen. In Murzuq aßen wir zu Mittag, und als wir gerade wieder losgefahren sind Richtung Sebha, überholte uns ein weißer Pickup, stoppte direkt vor uns und zwang uns so ebenfalls zum Anhalten. Der Fahrer (in Zivil) stieg aus, meinte etwas von „Police“ und bedeutete uns, ihm zu folgen. Tatsächlich fuhren wir zu einer Polizeistation, wo er nicht nur unsere Reisepässe, sondern erstmals auch die an der Grenze zu den Kennzeichen erhaltenen Versicherungsunterlagen akribisch prüfte. Dann mussten wir ihm noch auf einer großen Landkarte an der Wand unsere gefahrene und die weiter geplante Reiseroute zeigen.
Wir fuhren dann nach Sebha und bezogen (diesmal ein anderes, etwas günstigeres) Hotel. Sind dann noch hoch zur Burg gelaufen und haben anschließend in der Stadt gegessen. Als wir zum Hotel zurückkamen, stand neben unseren Kühen eine weitere BMW mit deutschem Kennzeichen (HPN-Umbau), den Fahrer trafen wir im Innenhof und verbrachten den Abend gemeinsam mit dem Austausch unserer Reiseerfahrungen – ich hatte ja genug zu berichten. Wir beschlossen, meinem Rücken vor der langen Pistenetappe Idri-Darj noch einen Tag Ruhe zu gönnen und verbrachten den nächsten Tag überwiegend mit Faulenzen und kleineren Wartungsarbeiten (Luftfilter reinigen z.B.). Nachmittags, im Innenhof des Hotels sitzend, habe ich dann folgendes im Reisetagebuch notiert:
„Meine Stimmung ist gemischt: Einerseits Lust auf Piste (jetzt erst recht usw.), andererseits steckt mir der Unfall noch in den Knochen (wobei der schmerzende Rücken eher das kleinere Problem ist, der mentale Dämpfer ist schlimmer!). Ein Teil von mir möchte am liebsten auf Asphalt nach Hause, „Wunden lecken“. Der andere Teil weiß natürlich, dass das Quatsch ist. Was passiert ist, ist passiert, und wird nicht dadurch ungeschehen, dass ich Arend und mir den Rest der Reise vermiese.“
(Fortsetzung folgt...)