Keine Reise, eher ein kurzer Sprint..
Verfasst: Samstag 28. November 2015, 22:24
Es ist ein Kreuz hier in den Alpen. Die ganze Landschaft ist voll mit Bergen, die den Ausblick verstellen. Die Dinger sind dann auch noch so hoch, dass man drumherum fahren muss. Am allerschlimmsten sind dabei die Pass-Strassen. Als man vor ungefähr 2 Mio. Jahren angefangen hat, diese Pass-Strassen zu erfinden, hat leider jemand das "S" am Wortanfang unterschlagen. Heute müssen wir uns Kurve an Kurve, Kehre an Kehre hochquälen - und kaum ist man oben, geht's auf der anderen Seite wieder gleich runter. OK - der Maloja ist dabei eine Ausnahme. Aber eine Ausnahme ist ja immer. Wenn Ihr also Spitzkehren und Pass-Strassen überhaupt nicht gerne fahrt, dann dürft Ihr auf keinen Fall darüber nachdenken, folgende Strecke unter die Räder zu nehmen:
http://www.motoplaner.de/#v4&46.63357,1 ... 1,0,0&&0,0" onclick="window.open(this.href);return false;
Am Startpunkt in Spondinig zeigt sich die Strecke noch sehr unkompliziert und einfach: 2 km geradeaus bis Prad am Stilfserjoch, jenes Dorf, das den Schrecken schon im Namen trägt. Heimtückischerweise merkt man davon nichts - der Weg führt ruhig durch und aus dem Ort. Das Tal des Suldenbachs verengt sich hinter Prad jedoch zügig, und die SS38 lehnt sich bereits an die Bergflanken. Es wird bisweilen notwendig, etwas stärker zu bremsen und sein Motorrad etwas tiefer in plötzlich auftauchende Kurven zu legen. Vereinzelte schwarze Striche erzählen dem geübten Fahrer, dass einige Motorrad-Kollegen - bevorzugt auf einzylindrigen Geländemaschinen mit falscher Bereifung - bereits hier vollkommen mit der Beherrschung ihres Fahrzeugs überfordert sind. Bisweilen erscheint einer dieser Spezialisten im Gegenverkehr - hütet Euch vor jenen, die den kurveninneren Fuss von der Raste nehmen müssen, um ums Eck zu kommen. SEHR gefährlich!
In der Ortschaft Stilfserbrücke überquert man den vom vielen eiskalten Gletscherwasser ganz grauen Suldenbach. Vor der Brücke schwungvoll nach rechts und sofort wieder nach links umlegen - so meistern die Kurvenfreunde diese Schlüsselstelle. Gerne kann diese Kombination als Vorbereitung für die folgenden Kurven bis nach Gomagoi dienen. Vorsicht nach der Ortschaft: um den von den Bergen stürzenden Steinen eine weiche Landung im nun Trafoier Bach zu ermöglichen, hat man eine Art Tunnel an den Berghang gebaut. Da ist dann plötzlich der Sonnenschein von oben verschwunden - und kaum ist man aus der Röhre raus, wartet unter heiterem Himmel Kehre Nr. 48: ein tückisches Ding. Geht hart nach rechts weg, steigt dabei leicht an und verengt sich zu allem Überfluss auch noch. Tiefe Kratzspuren im Asphalt erzählen Geschichten von aufsetzenden Bussen und Campern, dunkle Flecken von horizontal übergelaufenen Motorrad-Tanks warnen vor falschen Handlungen an Gas und Kupplung, und orange schimmern Bruchstücke von Blinkern in der Sonne.

Kehre Nr. 47 folgt sogleich. Als Linkskurve ist sie ein wenig benutzerfreundlicher, und der Anstieg bis Trafoi erlaubt wieder ein wenig Entspannung. Dabei lohnt sich ein Blick in die Bergwelt, die sich vor dem Vorderrad öffnet - mächtige Felsriesen mit im Frühjahr bis tief ins Tal reichenden Gletschern bauen sich auf:

Am Dorfausgang von Trafoi: Kehre Nr. 46. Wer diese verpasst, findet sich in der Rezeption des Hotels "Schöne Aussicht" wieder, das vom einstigen Ski-Olympia-Star Gustav Thöni und seiner Familie geführt wird. Sollte Valentino Rossi mal ein Hotel übernehmen wollen - dieses Haus wäre perfekt ;-) Auch das nächste Eck führt bei Misslingen zu einem Hotel - bis hierher kann also wenig schief gehen. Wenige Meter später ist das Dorf Trafoi mit der einsam in der Wiese stehenden Kirche und dem besuchenswerten Haus der Natur „naturatrafoi" auch schon wieder zu Ende und dunkler Wald öffnet sich, in dem die Breite der Strasse sofort gefühlt um die Hälfte abnimmt.
Ängstliche Naturen haben noch die Möglichkeit, nach links abzubiegen und sich zur Wallfahrts-Stätte "Drei Brunnen" zu retten. Alle anderen begeben sich in die 44-stufige Folterkammer von Kupplungshand und Nackenmuskeln..
Kleine Anekdote:
In der nächsten Kehre sah ich seinerzeit 4 Motorräder liegen - einsamer Rekord in 22 Jahren Joch-Fahrens. Zwei Gross-Enduros, ein Naked-Bike und ein Chopper - eine Maschine fiel vor der Kehre, zwei in der Kehre, eine danach: der Fahrer der Maschine Nr. 1 fuhr die Kehre viel zu eng, berührte den Randstein und fiel nach rechts. Seine Sozia wechselte mit einem eleganten Rückwärts-Salto auf die untere Fahrbahn. Der Fahrer von Maschine Nr. 2 wendete in der Kehre und stellte sein Motorrad talwärts ohne eingelegten Gang auf den Seitenständer - mit materialmordenden Folgen. Fahrer Nr. 3 sah sich dadurch sämtlicher möglicher Linien beraubt, zog energisch an der Bremse - und vergass den Fuss von der Raste zu nehmen. Die Fahrerin auf Maschine Nr. 4 liess angesichts dieses Geschehens vor Schreck den Lenker loss, sprang vom fallenden Motorrad, schleuderte ihren Helm zu Boden und brüllte zu Fahrer Nr. 2 vor: „..verdammt, ich hab Dir doch gesagt, ich fahr da nicht hoch..!!“ Ein Drama.
Nach über eine Stunde später begegneten mir die 4 auf der Passhöhe wieder - ich hatte inzwischen zu Mittag gegessen, die 4 hatten ihr Vorhaben durchgezogen.
Anekdote Ende.
Ausgangs der nächsten Kehre ist der Fahrbahnbelag rutschig wie sonst nirgends auf dem Weg nach oben, und sogar schwergewichtige und leistungsschwache Harleys schaffen hier Drifts. Selbst ausprobiert. Man quert eine lichte Lawinen-Schneise (die ich schon mal mit der Supermoto hoch-, aber leider nicht mehr runtergefahren bin.. *ähm*) - je nach Untersatz entweder auf dem Knie oder auf dem Trittbrett - und wühlt sich weiter durch das stellenweise superenge, stellenweise unwirklich breite Kurvengewürm. Spitzkehre reiht sich an Spitzkehre, weiter als in den 3. Gang schaltet man selten.
Beim „Weissen Knott“ - dem weissen Felsen - werden die Bäume langsam dürrer, die Vegetation beginnt sich zu ändern, gefühlt nach jeder Kehre. Frisch aufgebrachter Asphalt wechselt sich mit glattgebremsten Betonplatten und abenteuerlichen Sprungschanzen in der missbrauchten Fahrbahn ab, neu erstellte Begrenzungs-Blöcke aus Beton und Steinen des Trafoier Bachs beissen sich mit der alten Trocken-Stützmauer aus dem vorigen Jahrhundert, und Murmeltiere schaufeln eifrig Steine vor die Räder der Erklimmer des Bergs.
Es ergibt sich ein Step-Tanz auf Gang- und Bremshebel, ständig ist an Kupplung und Bremse zu ziehen, das Motorrad kippt nach links und rechts und trifft doch immer genau den einen Murmeltier-Kiesel. Die Nackenmuskeln überdehnen sich beim Blick in die Kehren, aber Gelegenheiten zum Verschnaufen gibt es wenige, denn auf den seltenen Ausweichmöglichkeiten und Parkplätzchen steht meist schon wer. Der Anblick der Bergriesen gegenüber ist jedoch jederzeit immer jede Pause wert.
Ab der „Franzenshöhe“ ergibt sich endlich der grosse Blick auf das Strassenwunderwerk. Ich frag mich gerne, wie man es um 1800 geschafft hat, in dieser unwirtlichen Gegend derartige Mengen an Baumaterial zu beschaffen und bereitzustellen - wahrscheinlich auf dem Rücken hochgeschunden, den Weg aus den Fels zu hauen und dann auch noch dank Überdachung die Strasse das ganze Jahr über befahrbar zu halten. Mit Wechselstationen für Pferde.
Eine unglaubliche Leistung.
Langsam wandelt sich der Berg zu blankem Stein und Geröll. Dennoch wachsen immer noch Pflanzen im Fels - Gletscherhahnenfuss nennt er sich, glaub ich. Im "naturatrafoi" wüsste man es ganz genau. Einzelne Schneefelder überdauern den ganzen Sommer und versorgen das Asphaltband mit einem festen Strom an Schmelzwasser, und über Nacht wirft der Berg mit Steinen und Geröll nach der Strasse.
Je einstelliger die Zahlen auf den Schildern in den Kehren werden, desto steiler wird die Wand. Und enger wird der Weg, da kann dann schon mal ein wenig der Platz ausgehen…

Die von Fahrrad-Enthusiasten auf die Strasse gepinselten Rest-Kilometer-Werte kündigen die Passhöhe an: 2760 m über dem Meer, im Bratwurst-Dampf und Sauerkraut-Nebel, gibt es dann selbstpfeifende Stofftiere zu kaufen, Säuferhüte aus original einheimisch handgefilzter Wolle aus China und Polenta mit ganzjährig frischen Pfifferlingen aus dem eigenen Garten.. Der wahrscheinlich höchstgelegene Zirkus wo gibt. Kolossal hässliche Betonkolosse aus den 60ern oder 70ern mit verblichenen Sport-Schriftzügen an den bröckelnden Wänden widerrufen jede Einladung zum Verweilen - schnell weg hier, schön ist anders. Obwohl einem die Landschaft dort oben immer wieder umhaut.
Die Strasse führt rasch in die Tiefe, nächstes Ziel ist Bormio, bekannt aus der Ski-WM. Die Landschaft öffnet sich beidseitig - wir fahren nach links, rechts ginge es in die Schweiz. Mit jeder weiteren Haarnadel holt sich das Grün etwas Landschaft zurück, Wasserfälle rauschen ins Tal, bizarr verbogene Felsschichten ragen in den Himmel, der Berg bekommt Löcher, mit LED-Beleuchtung und Wasserschaden. Früher, als es noch kein Licht im Tunnel gab, war spontan auftretender Gegenverkehr im einspurigen Felsenloch sehr anregend. Heute sieht jeder Wohnmobiler ein bisschen besser im Rückspiegel, beim erzwungenen Zurücksetzen.

Die Landschaft unterscheidet sich sehr von jener auf der Ostrampe, über die wir hochgeklettert sind. Alles schaut ein wenig trockener, steppenhafter, südländischer aus, beeindruckende Geröllhalden (die bei schweren Gewittern schon mal leicht abrutschen und die Strasse verlegen..) begleiten auf dem Weg nach unten. Anstelle von gemauerten Begrenzungssteinen gibt’s dunkle, rostige Leitplanken, aber dafür ist der Strassenbelag viel besser, und die italienischen Jungs, die von Bormio hochkommen, tragen mehrheitlich Jeans.

Nach 34 Kehren ist der Spass vorbei, Bormio ist erreicht. Es italienert sehr, Architektur und Landschaft ist komplett anders als im nicht mal 50 km entfernten Vinschgau, Malerarbeiten sind teuer, so scheint es..

Wir wollen uns aber nicht lange aufhalten, sondern wenden uns dem nächsten Ziel zu. Dem Lago di Cancano. Nach einer kurzen Fahrt ins „Valdidentro“ - in Richtung Premadio. Irgendwo in der dortigen Pampa geht dann ein kleines Strässchen nach rechts hoch - ohne grossartige Strassenmarkierung oder Sicherung, aber immer noch mit rostigen Leitplanken. Die Kehren noch ein wenig enger als auf dem Stilfserjoch, die Landschaft noch atemberaubender, die Bäume noch nadeliger, die Arbeit den Motorrad-Hebeln noch intensiver.

Am Ende des kurvigen Treibens erheben sich die beiden „Torri di Fraele“ - Überbleibsel einer Festung, alte Steintürme, die in mittelalterlichen Zeiten als Zollstation für den Warenverkehr in die Schweiz dienten. Von den Türmen hat man einen wunderbaren Blick auf die soeben befahrene Strasse und das Valdidentro, das „Innere Tal“.
Es folgt ein nur noch unbefestigter Weg durch eine traumhafte, unberührte Landschaft. Ein verlassener, tieffarbiger See taucht aus dem Nadelwald auf, der Weg steigt leicht an - und unvermittelt befindet man sich einer riesigen Staumauer gegenüber: der „diga di Cancano“. Der dahinter aufgestaute See überrascht mit seiner kräftigen Farbe, und im kleinen, urigen „Rifugio Monte Scale“ am riesigen Parkplatz gibt es die besten mir bekannten Pizzoccheri.

Wir sind am Ziel - obwohl sich rund um den See unzählige, leicht befahrbare Schotterwege schlängeln und sich am Ende des grossen Stausees noch ein weiterer, höher gelegener, ebenfalls künstlicher See befindet. Sehr beeindruckend, diese riesigen technischen Gebilde im Hochgebirge, geschaffen in unzähligen Mann-Stunden und sicher unter desaströsen Bedingungen. Und gewaltig auch hier, wie die Hochgebirgs-Landschaft auf’s Gemüt wirkt..

Bis hierhin waren es knapp 100 tornanti - Fahrzeit ca. 1,5 Stunden mit dem etwas schwereren amerikanischen Eisen. Keine Reise an sich, aber ein kurzweiliges Sammeln von Kehren, Schräglagen, Eindrücken und Aussichten.
Cappuccino zum Nachtisch nicht vergessen, und dann mit Elan wieder die gleiche Strecke zurück :-)
http://www.motoplaner.de/#v4&46.63357,1 ... 1,0,0&&0,0" onclick="window.open(this.href);return false;
Am Startpunkt in Spondinig zeigt sich die Strecke noch sehr unkompliziert und einfach: 2 km geradeaus bis Prad am Stilfserjoch, jenes Dorf, das den Schrecken schon im Namen trägt. Heimtückischerweise merkt man davon nichts - der Weg führt ruhig durch und aus dem Ort. Das Tal des Suldenbachs verengt sich hinter Prad jedoch zügig, und die SS38 lehnt sich bereits an die Bergflanken. Es wird bisweilen notwendig, etwas stärker zu bremsen und sein Motorrad etwas tiefer in plötzlich auftauchende Kurven zu legen. Vereinzelte schwarze Striche erzählen dem geübten Fahrer, dass einige Motorrad-Kollegen - bevorzugt auf einzylindrigen Geländemaschinen mit falscher Bereifung - bereits hier vollkommen mit der Beherrschung ihres Fahrzeugs überfordert sind. Bisweilen erscheint einer dieser Spezialisten im Gegenverkehr - hütet Euch vor jenen, die den kurveninneren Fuss von der Raste nehmen müssen, um ums Eck zu kommen. SEHR gefährlich!
In der Ortschaft Stilfserbrücke überquert man den vom vielen eiskalten Gletscherwasser ganz grauen Suldenbach. Vor der Brücke schwungvoll nach rechts und sofort wieder nach links umlegen - so meistern die Kurvenfreunde diese Schlüsselstelle. Gerne kann diese Kombination als Vorbereitung für die folgenden Kurven bis nach Gomagoi dienen. Vorsicht nach der Ortschaft: um den von den Bergen stürzenden Steinen eine weiche Landung im nun Trafoier Bach zu ermöglichen, hat man eine Art Tunnel an den Berghang gebaut. Da ist dann plötzlich der Sonnenschein von oben verschwunden - und kaum ist man aus der Röhre raus, wartet unter heiterem Himmel Kehre Nr. 48: ein tückisches Ding. Geht hart nach rechts weg, steigt dabei leicht an und verengt sich zu allem Überfluss auch noch. Tiefe Kratzspuren im Asphalt erzählen Geschichten von aufsetzenden Bussen und Campern, dunkle Flecken von horizontal übergelaufenen Motorrad-Tanks warnen vor falschen Handlungen an Gas und Kupplung, und orange schimmern Bruchstücke von Blinkern in der Sonne.

Kehre Nr. 47 folgt sogleich. Als Linkskurve ist sie ein wenig benutzerfreundlicher, und der Anstieg bis Trafoi erlaubt wieder ein wenig Entspannung. Dabei lohnt sich ein Blick in die Bergwelt, die sich vor dem Vorderrad öffnet - mächtige Felsriesen mit im Frühjahr bis tief ins Tal reichenden Gletschern bauen sich auf:

Am Dorfausgang von Trafoi: Kehre Nr. 46. Wer diese verpasst, findet sich in der Rezeption des Hotels "Schöne Aussicht" wieder, das vom einstigen Ski-Olympia-Star Gustav Thöni und seiner Familie geführt wird. Sollte Valentino Rossi mal ein Hotel übernehmen wollen - dieses Haus wäre perfekt ;-) Auch das nächste Eck führt bei Misslingen zu einem Hotel - bis hierher kann also wenig schief gehen. Wenige Meter später ist das Dorf Trafoi mit der einsam in der Wiese stehenden Kirche und dem besuchenswerten Haus der Natur „naturatrafoi" auch schon wieder zu Ende und dunkler Wald öffnet sich, in dem die Breite der Strasse sofort gefühlt um die Hälfte abnimmt.
Ängstliche Naturen haben noch die Möglichkeit, nach links abzubiegen und sich zur Wallfahrts-Stätte "Drei Brunnen" zu retten. Alle anderen begeben sich in die 44-stufige Folterkammer von Kupplungshand und Nackenmuskeln..
Kleine Anekdote:
In der nächsten Kehre sah ich seinerzeit 4 Motorräder liegen - einsamer Rekord in 22 Jahren Joch-Fahrens. Zwei Gross-Enduros, ein Naked-Bike und ein Chopper - eine Maschine fiel vor der Kehre, zwei in der Kehre, eine danach: der Fahrer der Maschine Nr. 1 fuhr die Kehre viel zu eng, berührte den Randstein und fiel nach rechts. Seine Sozia wechselte mit einem eleganten Rückwärts-Salto auf die untere Fahrbahn. Der Fahrer von Maschine Nr. 2 wendete in der Kehre und stellte sein Motorrad talwärts ohne eingelegten Gang auf den Seitenständer - mit materialmordenden Folgen. Fahrer Nr. 3 sah sich dadurch sämtlicher möglicher Linien beraubt, zog energisch an der Bremse - und vergass den Fuss von der Raste zu nehmen. Die Fahrerin auf Maschine Nr. 4 liess angesichts dieses Geschehens vor Schreck den Lenker loss, sprang vom fallenden Motorrad, schleuderte ihren Helm zu Boden und brüllte zu Fahrer Nr. 2 vor: „..verdammt, ich hab Dir doch gesagt, ich fahr da nicht hoch..!!“ Ein Drama.
Nach über eine Stunde später begegneten mir die 4 auf der Passhöhe wieder - ich hatte inzwischen zu Mittag gegessen, die 4 hatten ihr Vorhaben durchgezogen.
Anekdote Ende.
Ausgangs der nächsten Kehre ist der Fahrbahnbelag rutschig wie sonst nirgends auf dem Weg nach oben, und sogar schwergewichtige und leistungsschwache Harleys schaffen hier Drifts. Selbst ausprobiert. Man quert eine lichte Lawinen-Schneise (die ich schon mal mit der Supermoto hoch-, aber leider nicht mehr runtergefahren bin.. *ähm*) - je nach Untersatz entweder auf dem Knie oder auf dem Trittbrett - und wühlt sich weiter durch das stellenweise superenge, stellenweise unwirklich breite Kurvengewürm. Spitzkehre reiht sich an Spitzkehre, weiter als in den 3. Gang schaltet man selten.
Beim „Weissen Knott“ - dem weissen Felsen - werden die Bäume langsam dürrer, die Vegetation beginnt sich zu ändern, gefühlt nach jeder Kehre. Frisch aufgebrachter Asphalt wechselt sich mit glattgebremsten Betonplatten und abenteuerlichen Sprungschanzen in der missbrauchten Fahrbahn ab, neu erstellte Begrenzungs-Blöcke aus Beton und Steinen des Trafoier Bachs beissen sich mit der alten Trocken-Stützmauer aus dem vorigen Jahrhundert, und Murmeltiere schaufeln eifrig Steine vor die Räder der Erklimmer des Bergs.

Es ergibt sich ein Step-Tanz auf Gang- und Bremshebel, ständig ist an Kupplung und Bremse zu ziehen, das Motorrad kippt nach links und rechts und trifft doch immer genau den einen Murmeltier-Kiesel. Die Nackenmuskeln überdehnen sich beim Blick in die Kehren, aber Gelegenheiten zum Verschnaufen gibt es wenige, denn auf den seltenen Ausweichmöglichkeiten und Parkplätzchen steht meist schon wer. Der Anblick der Bergriesen gegenüber ist jedoch jederzeit immer jede Pause wert.
Ab der „Franzenshöhe“ ergibt sich endlich der grosse Blick auf das Strassenwunderwerk. Ich frag mich gerne, wie man es um 1800 geschafft hat, in dieser unwirtlichen Gegend derartige Mengen an Baumaterial zu beschaffen und bereitzustellen - wahrscheinlich auf dem Rücken hochgeschunden, den Weg aus den Fels zu hauen und dann auch noch dank Überdachung die Strasse das ganze Jahr über befahrbar zu halten. Mit Wechselstationen für Pferde.
Eine unglaubliche Leistung.

Langsam wandelt sich der Berg zu blankem Stein und Geröll. Dennoch wachsen immer noch Pflanzen im Fels - Gletscherhahnenfuss nennt er sich, glaub ich. Im "naturatrafoi" wüsste man es ganz genau. Einzelne Schneefelder überdauern den ganzen Sommer und versorgen das Asphaltband mit einem festen Strom an Schmelzwasser, und über Nacht wirft der Berg mit Steinen und Geröll nach der Strasse.
Je einstelliger die Zahlen auf den Schildern in den Kehren werden, desto steiler wird die Wand. Und enger wird der Weg, da kann dann schon mal ein wenig der Platz ausgehen…

Die von Fahrrad-Enthusiasten auf die Strasse gepinselten Rest-Kilometer-Werte kündigen die Passhöhe an: 2760 m über dem Meer, im Bratwurst-Dampf und Sauerkraut-Nebel, gibt es dann selbstpfeifende Stofftiere zu kaufen, Säuferhüte aus original einheimisch handgefilzter Wolle aus China und Polenta mit ganzjährig frischen Pfifferlingen aus dem eigenen Garten.. Der wahrscheinlich höchstgelegene Zirkus wo gibt. Kolossal hässliche Betonkolosse aus den 60ern oder 70ern mit verblichenen Sport-Schriftzügen an den bröckelnden Wänden widerrufen jede Einladung zum Verweilen - schnell weg hier, schön ist anders. Obwohl einem die Landschaft dort oben immer wieder umhaut.
Die Strasse führt rasch in die Tiefe, nächstes Ziel ist Bormio, bekannt aus der Ski-WM. Die Landschaft öffnet sich beidseitig - wir fahren nach links, rechts ginge es in die Schweiz. Mit jeder weiteren Haarnadel holt sich das Grün etwas Landschaft zurück, Wasserfälle rauschen ins Tal, bizarr verbogene Felsschichten ragen in den Himmel, der Berg bekommt Löcher, mit LED-Beleuchtung und Wasserschaden. Früher, als es noch kein Licht im Tunnel gab, war spontan auftretender Gegenverkehr im einspurigen Felsenloch sehr anregend. Heute sieht jeder Wohnmobiler ein bisschen besser im Rückspiegel, beim erzwungenen Zurücksetzen.

Die Landschaft unterscheidet sich sehr von jener auf der Ostrampe, über die wir hochgeklettert sind. Alles schaut ein wenig trockener, steppenhafter, südländischer aus, beeindruckende Geröllhalden (die bei schweren Gewittern schon mal leicht abrutschen und die Strasse verlegen..) begleiten auf dem Weg nach unten. Anstelle von gemauerten Begrenzungssteinen gibt’s dunkle, rostige Leitplanken, aber dafür ist der Strassenbelag viel besser, und die italienischen Jungs, die von Bormio hochkommen, tragen mehrheitlich Jeans.

Nach 34 Kehren ist der Spass vorbei, Bormio ist erreicht. Es italienert sehr, Architektur und Landschaft ist komplett anders als im nicht mal 50 km entfernten Vinschgau, Malerarbeiten sind teuer, so scheint es..

Wir wollen uns aber nicht lange aufhalten, sondern wenden uns dem nächsten Ziel zu. Dem Lago di Cancano. Nach einer kurzen Fahrt ins „Valdidentro“ - in Richtung Premadio. Irgendwo in der dortigen Pampa geht dann ein kleines Strässchen nach rechts hoch - ohne grossartige Strassenmarkierung oder Sicherung, aber immer noch mit rostigen Leitplanken. Die Kehren noch ein wenig enger als auf dem Stilfserjoch, die Landschaft noch atemberaubender, die Bäume noch nadeliger, die Arbeit den Motorrad-Hebeln noch intensiver.

Am Ende des kurvigen Treibens erheben sich die beiden „Torri di Fraele“ - Überbleibsel einer Festung, alte Steintürme, die in mittelalterlichen Zeiten als Zollstation für den Warenverkehr in die Schweiz dienten. Von den Türmen hat man einen wunderbaren Blick auf die soeben befahrene Strasse und das Valdidentro, das „Innere Tal“.
Es folgt ein nur noch unbefestigter Weg durch eine traumhafte, unberührte Landschaft. Ein verlassener, tieffarbiger See taucht aus dem Nadelwald auf, der Weg steigt leicht an - und unvermittelt befindet man sich einer riesigen Staumauer gegenüber: der „diga di Cancano“. Der dahinter aufgestaute See überrascht mit seiner kräftigen Farbe, und im kleinen, urigen „Rifugio Monte Scale“ am riesigen Parkplatz gibt es die besten mir bekannten Pizzoccheri.

Wir sind am Ziel - obwohl sich rund um den See unzählige, leicht befahrbare Schotterwege schlängeln und sich am Ende des grossen Stausees noch ein weiterer, höher gelegener, ebenfalls künstlicher See befindet. Sehr beeindruckend, diese riesigen technischen Gebilde im Hochgebirge, geschaffen in unzähligen Mann-Stunden und sicher unter desaströsen Bedingungen. Und gewaltig auch hier, wie die Hochgebirgs-Landschaft auf’s Gemüt wirkt..

Bis hierhin waren es knapp 100 tornanti - Fahrzeit ca. 1,5 Stunden mit dem etwas schwereren amerikanischen Eisen. Keine Reise an sich, aber ein kurzweiliges Sammeln von Kehren, Schräglagen, Eindrücken und Aussichten.
Cappuccino zum Nachtisch nicht vergessen, und dann mit Elan wieder die gleiche Strecke zurück :-)