Ich kam, sah und es regnete

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hanslmann
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Ich kam, sah und es regnete

#1 Ungelesener Beitrag von hanslmann »

Die Geschichte spielt im Jahre 2001
Da ich jetzt endlich kapiert hab, wie das mit den Fotos abläuft, habe ich die Möglichkeit, sie euch näher zu bringen.

Tag 1
Es ist 0:30 Uhr, ich liege seit etwa zwei Stunden hellwach in meinem viel zu grossen Bett und starre ins Dunkel. Zum 93sten Mal blicke ich auf den doofen Wecker.
0:31 Uhr! Verdammt! Die Zeit fliesst so zähe wie Ahornsirup.
An meiner Schlaflosigkeit ist nicht etwa der Alkohol schuld, sodass ich mit dem Bett eine Runde Karussell fahre. Es ist auch nicht eine dieser schwülen Sommernächte, in denen man kein Auge zubekommt, weil sich der Schweiss am Hintern sammelt.
Es ist Schottland, das mich unüberhörbar ruft. Mein erstes grosses Abenteuer wartet.
Mir reicht es jetzt. Ich habe keine Lust mehr, die Zeit unnütz im Bett wälzend totzuschlagen. Den Wecker starre nun schon lange genug an und habe schmerzhaft erkennen müssen, wie schleichend doch eine Minute sein kann. Langsam stehe ich auf und bin ziemlich ratlos, was ich jetzt tun soll. Obwohl ich meinem festgelegten Zeitplan um mindestens drei Stunden voraus bin, werfe ich ihn nach kurzem Grübeln achtlos beiseite. Man muss auch mal flexibel sein. Hurtig schlüpfe in die Motorrad-Klamotten, die schon seit geschlagenen zwei Tagen auf dem Sofa bereit liegen. Innerhalb von zwei Minuten bin ich komplett angezogen und ich will mir am liebsten auch schon den Helm überstülpen. Der fertig gepackte Rucksack, zwei tonnenschwere Satteltaschen, ein überquellender Tankrucksack und die, zu einer Pellwurst geschnürten, Gepäckrolle stapeln sich ebenfalls seit zwei Tagen in meinem Wohnzimmer. Beim Anblick dieser Lagerhalle überkommt mich plötzlich das ungute Gefühl, dass ich für meine knapp einwöchige Reise eventuell ein wenig zu viel eingepackt habe. Doch jetzt will ich nichts mehr ändern. So flexibel bin ich dann doch nicht. Wie ein sizilianischer Esel im Hochsommer stapfe ich mit dem Gepäck in die Tiefgarage. Der Lift funktioniert mal wieder nicht, und so komme ich nicht umhin, die 42 Stufen schleppend hinter mich zu bringen. Ich muss mich sogar zweimal abplagen, um dem Gewicht Herr zu werden, denn unter einmal schaffe ich die geschätzten 450 Kilo Gepäck nicht. Gewissenhaft verwandle ich mein Motorrad zu einem Schwertransporter und bin erstaunt, dass ich sogar noch selbst Platz finde. Schweissgebadet kriege ich noch ein flüchtiges Foto mit dem Selbstauslöser her, und bin nun bereit, mich auf die grosse Reise zu begeben. Das Abenteuer kann beginnen.

Ich fahre um 01:00 Uhr morgens los und bin meinem Zeitplan immer noch um drei Stunden voraus. Ich beruhige mich damit, dass ich mir ja jetzt viel mehr Zeit lassen kann, um mit gemütlichen 110 km/h in Richtung Holland zu cruisen. Zwischen mir und Amsterdam liegen etwa 1000 Kilometer Autobahn, was sich in etwa so angenehm anhört, wie das Anlegen von verrosteten Daumenschrauben. Bereits nach vier Kilometern werde ich schon mit einem Regenschauer begrüsst. Petrus hat ja wieder mal ‘ne Superlaune. Widerwillig ziehe ich mir den Regenkombi an, der eigentlich nur für Notfälle geplant ist. Es kann ja nur besser werden! Mit diesem Gedanke schwinge ich mich wieder auf mein Eisen und nehme die ersten 300 Kilometer Autobahn, bis zum geplanten Tankstopp, in Angriff. Ich brause durch die Nacht und empfinde es wenigstens als angenehm, die Strasse mit nur so wenigen Autos teilen zu müssen. Nach etwa zweieinhalb Stunden beuteln mich schwere Hänger - Sekundenschlaf!
Mein riesiger Tankrucksack, der sich vor mir wie ein Haufen kuscheliger Polster auftürmt, macht es mir ja auch nicht gerade leicht. Da er Unmengen vom garstigen Fahrtwind schluckt, habe ich ihn immer öfters als Kissen missbraucht. Nachdem mir die linke Leitschiene einige Male androht, die Fussraste abzuschrammen, entschliesse ich mich, den geplanten Tankstopp vorzuverlegen. Mein Schutzengel hat eine helle Freude - nachkommende Autofahrer wahrscheinlich ebenso. Mit einem tiefen Seufzer fahre ich die nächste Tankstelle an und bin froh, meine heilen Knochen etwas auszuschütteln. Bei einem starken, schwarzen Kaffee, denke ich wieder über das Thema Zeit nach. Die Fahrzeit für die errechneten 1000 Kilometer ist für mich in etwa so schwer einzuschätzen, wie das Milchgeben einer trächtigen Kuh. Theoretisch kann ich in zehn Stunden in Amsterdam sein, wenn ich mit lockeren 100 km/h dahin tuckere. Und ich bin jetzt schon mit 120 Sachen unterwegs. Also müsste ich ja noch vor dem Frühstück dort sein. Doch meine Sorge ist, dass die Theorie über den Haufen geworfen wird. Sei es nun wegen einem Stau, einer Panne, einem Unfall, oder gar einem unvorhergesehenen Wintereinbruch. Na ja, bei einem Unfall müsste ich mir wohl kaum noch Sorgen um die Zeit machen. Höchstens noch um DIE Zeit, wann der nächste Krankenwagen kommt. Die Angst vor einem normalen Stau oder einer anormalen Panne treibt mich letztendlich weiter. Den Wintereinbruch und den Unfall streiche ich aus dem Gedächtnis. So schlürfe ich hastig meinen Kaffee zu Ende, wobei ich jedoch sorgsam beachte, mir vorher ja noch gehörig die Speiseröhre zu verbrennen. Das Wetter wird besser. Meine Laune ebenso. Doch vorsichtshalber klemme ich den Regenkombi griffbereit hinten auf die Gepäckrolle. Ich traue diesem Frieden nicht.

Ich jage wieder durch die Nacht und richte meine Aufmerksamkeit auf die Tachonadel, die ich bei 120 km/h einpendeln lasse. Die Landschaft fegt düster an mir vorbei, ohne dass ich sie eines Blickes würdige. Warum auch? Es gibt sowieso nichts zu sehen. Nur gelegentlich auftauchenden Rücklichtern von langsamen Autos. Ausser diesen Überholmanövern passiert so wenig, wie beim Paarungsverhalten von Schildkröten, und so stellt sich ziemlich schnell wieder Langeweile ein. Als ich meine geplante Route durch Schottland in Gedanken durchlebe, beschleicht mich das Gefühl, dass ich die Zeit dafür zu kurz bemessen habe. Denn in nur fünf Tagen will ich die Lowlands und die gesamten Highlands durchfahren. Von der Erkundung der Isle of Skye will ich gar nicht erst reden. Leider habe ich auch schon die Rückfahrt mit der Fähre im Vorfeld gebucht, sodass ich mir mit dem auferlegten Zeitplan kaum Mätzchen erlauben kann. Ich habe noch nicht mal den kleinen Zeh auf schottischen Boden gesetzt und reserviere mir für nächstes Jahr schon mal zwei Wochen, um das Land dann besser erkunden zu können. Die Nacht geht genauso zu Ende, wie mein Benzinvorrat. Aber mir kommt diese kurze Rast sehr gelegen. So kann ich wieder ein wenig die Knochen ausschütteln und dem platt gedrückten Hintern eine Ruhepause gönnen. Mein Eisen bekommt gutes Super und ich einen schalen Automaten-Kaffee. Doch ich werde mit einem wunderschönen Sonnenaufgang belohnt. Ich nehme meinen brühend heissen Pappbecher und spaziere auf den Parkplatz. Zerfetzte Wolken, die letzten Überbleibsel der verregneten Nacht, schleichen langsam am Himmel herum. Die Wiese hinter der kleinen Raststätte dampft in der zaghaften morgendlichen Wärme. Es ist sehr frisch und meine Knochen sind gehörig durchgefroren. Mit klammen Fingern halte ich den Becher und versuche etwas Wärme in die Hände zu bekommen. Nachdem etwas Gefühl in die Finger zurückgekehrt ist, schwinge ich mich wieder in den Sattel und gebe Vollgas. Mit 160 Sachen geht es auf die Autobahn zurück und ich behalte die Geschwindigkeit gleich bei. Einfach nur, um wieder mal Geschwindigkeit zu spüren.

Langsam wird Deutschland munter und es gesellen sich immer mehr Autofahrer zu mir. Weil so ziemlich alle mit über 200 an mir vorbei düsen, sehe ich keinen Grund meine Geschwindigkeit zu drosseln. Ich lasse mich in ihrem Fahrtwind einfach mitziehen. Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass ich genau zur Morgenstunde, wenn sich der Verkehr zu einem zähflüssigen Brei verwandeln wird, den Ruhrpott durchqueren muss. Also bleibe ich fest am Gas hängen. Nach etwa zwei Stunden, um halb acht, ist wieder Zeit für eine kurze Rast. Die Bolzerei nagt gehörig an meiner Konzentration. Nach dem Tanken hole ich ein zerknautschtes Wurstbrötchen aus dem Gepäck, das ich noch zu Hause schnell geschmiert habe. Es sieht eigentlich recht unappetitlich aus, aber weil ich bei Kräften bleiben will, würge ich das trockene Brötchen mit einer Cola hinunter. Ich setze mich auf einen schmalen Wiesenstreifen und lasse mir die gut tuende Vormittagssonne aufs Gemüt braten. Der schwarze Lederkombi erwärmt sich langsam und ich hoffe, dass das gute Wetter weiter an mir kleben bleibt, wie Baumharz an den Händen. Der Landkarte entnehme ich, dass mich nur noch gut 200 Kilometer von der Grenze trennen. Wenn alles gut läuft, kann ich beim nächsten Tankstopp schon mit Gulden zahlen. Frisch gestärkt brause ich wieder auf den deutschen Highway. Ich bremse mich jetzt aber wirklich ein, weil ich langsam zu realisieren beginne, dass ich nun TATSÄCHLICH etwas zu früh dran bin.

Um ca. halb Elf Uhr endlich die Grenze zu den Niederlanden.
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Die habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Würden nicht alle langsamer fahren, hätte ich die Grenztafel sogar übersehen. Ich bleibe vor der EU-Tafel am Strassenrand stehen und schiesse ein schnelles Foto. Nicht nur meine momentanen Gefühle reissen mich hin und her - auch der aufkommende Wind. Ohne Pause (es ist kein geeigneter Platz zum Verweilen und am Himmel türmen sich immer mehr Regenwolken) suche ich mir die nächste Tankstelle. Es ist zwar überhaupt noch nicht nötig, aber ich will endlich meine Gulden in die Wirtschaft streuen. Ich entdecke eine Windmühle (meiner erste), ein paar Tulpen (meine letzten) und ab geht die Post auf die nächste Autobahn. Soviel zum Thema „Holland“. Das erholsame „Dorf-Cruisen“ hört auf, bevor es überhaupt anfängt. Ich lasse Arnheim und Utrecht locker hinter mir und wundere mich über die Gelassenheit der holländischen Autofahrer. So wird die Dränglerei der Deutschen rasch aus meinem Gedächtnis verbannt. Ich bleibe um ca. zwölf Uhr an einer riesigen Raststätte stehen, um mir wieder mal die Beine zu vertreten und dem heissen Motor etwas Auszeit zu gönnen. Die gefahrenen Kilometer kratzen nun schon an der 1000-Kilometer Marke und die endlos scheinende Bolzerei ist für uns beide sehr anstrengend.
Leider muss ich mich wieder in den Regenkombi verkriechen. Das Wetter verdüstert sich immer mehr. Doch der Plastikanzug hält wenigstens schön warm, denn der Wind frischt auch noch gehörig auf. Die ersten Regentropfen fallen, aber die können meiner guten Laune nichts anhaben – noch nicht. Zudem hege ich die leise Hoffnung, dass es in Schottland besser werden wird. Nach einer weiteren Stunde Fahrt, erreiche ich Amsterdam und bin positiv überrascht, die Zufahrt zum Hafen so leicht zu finden. Gespannt folge ich den Schildern mit dem Schiff darauf und realisiere eigentlich nicht so recht, dass gleich mein erstes Tagesziel erreicht ist. Als ich in die Hafeneinfahrt einbiege und langsam auf dem nassem Kopfsteinpflaster dahin tuckere, will es mir einfach nicht in den Kopf, dass die lange Fahrt hierher, eigentlich gar nicht so lang gewesen ist. Nur meine Müdigkeit zeigt mir, dass ich mich irre.

Es ist 13:00 Uhr und gleicht einem Trauerspiel. Nun wird mir die 3-Stunden-Rechnung präsentiert. Ich bin viel zu früh dran und nur ein einziges Auto steht in der Wartespur. Also hinten einreihen.
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Ich wage nicht, mein Motorrad ausser Sichtweite zu lassen, denn der Einmarsch zur Fähre kann ja jeden Moment losgehen. Glaube ich Doofling zumindest.
Zum Glück steht der Bus vor mir, sonst würde ich das mulmige Gefühl nicht loswerden, am falschen Platz zu stehen. Mein Tacho zeigt 1053 km an und so fühle ich mich auch. Was gäbe ich jetzt drum, zwei Stunden lang in einem dampfend heissen Bad zu liegen, um meinen durchgefrorenen Körper wieder auf eine normale Betriebstemperatur zu bringen; eine riesige, knusprige Schweinshaxe mit einem halben Kilo fettigen Pommes zu verschlingen; in ein weiches, kuscheliges Bett zu fallen, um zehn Stunden lang zu schlafen. Sehr, sehr viel würde ich darum geben. Stattdessen sitze ich an mein Motorrad gelehnt (um mich etwas vor dem nasskalten Wind zu schützen) auf knüppelharten Pflastersteinen. Der holländische Schnür-Regen, der zudem noch fies von der Seite kommt, prasselt mir unablässig ins Gesicht und langsam auch aufs Gemüt.
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Eine Stunde später: Meine gute Laune versickert zusehends in den Ritzen der Pflastersteine, die langsam aber sicher ihr Muster in meinem Hintern zurücklassen. Damit es bei keinem bleibenden Abdruck bleibt, entschliesse ich mich, etwas die Gegend zu erkunden. Da ich auf Sichtweite zu meinem Motorrad bleiben will, komme ich nicht wirklich weit. Mein Ausflug endet schnell und als sich ein weiterer Campingbus hinter uns einreiht, kehre ich zu meinem harten Platz zurück. Durch die neuen Zuschauer hinter komme ich mir nun doppelt so bescheuert vor. Da ich nicht in ihre Gesichter sehen will, versuche ich ein wenig zu dösen

Zwei Stunden später: Mein Magen meldet permanent sein Recht auf Nahrung. Ich versuche ihm gut zuzureden, doch er beschwert sich lautstark mit eklatantem Geknurre. Leider traue ich mich nicht mehr zurückzufahren, um in diesem gemütlich aussehenden Fischrestaurant, das ich bei der Ankunft entdeckt habe, meinen Hunger zu besänftigen.
Die Sorge, hier kann es losgehen und die Fähre ohne mich abfahren sobald ich dem Eingangstor den Rücken zudrehe, ist grösser als mein monströser Hunger.
Langsam gesellen sich mehr und mehr Autos zu uns. Nun merke ich, dass mein Denken komplett falsch ist, und ich nicht die geringste Ahnung von Häfen und Fähren habe. Ich verharre demonstrativ in stilles Schweigen, um den Einlass nicht zu verpassen.

Drei Stunden später: Nachdem ich lange meine Gereiztheit schüren kann, kommt das Pärchen vom Campingbus hinter mir auf mich zu und lädt mich zum Aufwärmen in ihr „Heim“ ein. „Hätte der nicht zwei Stunden früher fragen können?“ Der kleine sture Miesepeter regt sich in mir und ich habe das Gefühl, dass es nun doch wirklich nicht mehr so lange dauern kann, bis das hier losgeht.
Ich lehne freundlich ab (Schwerer Fehler!), mit der sarkastischen Begründung, dass es hier doch ganz gemütlich sei. Aber ich bitte ihn noch ein Foto von meiner „gemütlichen“ Lage zu machen. Er lacht nur und macht den gewünschten Schnappschuss.

Vier Stunden später: Nach knüppelhartem Warten, kommen endlich die Fahrkarten-Kontrolleurinnen gemütlich herbei. Wenigstens bedient mich die Hübscheste. Als ich die Fahrkarte entgegennehme, sind all das Warten, der Regen und mein wunder Hintern blitzschnell vergessen.Endlich geht es los.
Doch meine Freude währt nur äusserst kurz. Nach nur 50 Metern müssen wir uns wieder in eine 6-fache Wartespur einreihen. Ich kann es nicht fassen! Ist das hier etwa eine Verarsche?
Ich fühle mich betrogen, belogen, hintergangen – und ziemlich doof!
Was hätte ich mir nicht alles ersparen können? Viele Regentropfen, langes Warten und von den verschenkten Stunden in meinem Bett gar nicht zu reden.

Wenigstens lassen sie uns in eine grosse Wartehalle, in der es sogar Verpflegung gibt. Natürlich nur gegen Bares. Gegen viel Bares! Während ich gemütlich eine sauteure Cola schlürfe, trudeln zwei Motorradfahrer ein. Ja, die haben es richtig gemacht. Wie sich herausstellt, sind es Schotten, die nach einen 2-wöchigen Trip durch Frankreich wieder nach Hause fahren. Ich bin sofort Feuer und Flamme. Mit meinen Englischkenntnissen können wir eine einigermassen fliessende Unterhaltung führen. Als sie mich nach meiner Reiseroute fragen, krame ich meine Landkarte hervor. Sie erklären mir die Landschaften und Strassenverhältnisse der jeweiligen Route. Das Wort „busy“ fällt sehr oft, aber in meinem Wortschatz ist mir dieser Begriff irgendwie abhanden gekommen. Ich frage auch nicht. Sie wünschen mir für meine Fahrt viel Glück. Dann geht es endlich los.

Nacheinander werden wir aufgefordert im Gänsemarsch in den Bauch der Fähre zu fahren. Alles ist so neu für mich und ich mache es einfach den anderen nach. Nachdem jeder Biker sein Motorrad vertäut hat, packen wir unsere 7-Sachen (ich meine 16-Sachen) und wir gehen auf Kabinensuche. Verdammt, sind das enge Treppen und Gänge. Ich ärgere mich tierisch über die Unmengen von Gepäck, die ich umher schleppe und keuche schon nach kürzester Zeit wie ein altersschwacher Packesel. Mit dem Rucksack und den Satteltaschen auf den Schultern, der Gepäckrolle unter dem rechten Arm, den Helm und den Tankrucksack in der linken Hand, gebe ich ein geradezu bemitleidendes Bild ab. Doch Jammern hilft nichts mehr. Ich kann die Gepäckstücke nun mal nicht in die nächste Ecke kicken und dort vermodern lassen. Ich begrabe auch die Hoffnung, dass mir, zu meiner Erleichterung, etwas geklaut wird.
Nach beengender Suche finde ich endlich meine Kabine. Doch meine Erleichterung, sie gefunden zu haben, weicht schnell purer Empörung. „Verdammt, ist das eng hier!“
Die Gänge sind für einen, der an Klaustrophobie leidet, schon eine Herausforderung, aber das hier… Ich kann mir beim allerbesten Willen nicht vorstellen, wie hier zwei Personen übernachten können, sollen oder auch nur wollen. An „sich-wohl-fühlen“ ist überhaupt nicht zu denken. Kopfschüttelnd blicke ich mich um und kann es erst mal überhaupt nicht glauben.
Der Architekt dieser 2er Kabine ist wahrscheinlich ein Liliputaner. Das Gepäck muss ich im etwa einen Meter langen „Vorraum“ stehen lassen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als immer wieder darüber zu steigen, denn im Kleiderschrank haben vielleicht zwei Unterhosen Platz. Das Waschbecken reicht nicht mal für eine Katzenwäsche und von der Dusche will ich erst gar nicht anfangen. Das grösste in dieser Kabine – man mag es kaum glauben – ist das Fenster.

Bald darauf legt die riesige Fähre ab und ich begebe mich an Deck, um meinen ersten Tag (und den Amsterdamer Hafen) hinter mir zu lassen. Morgen werde ich die englische Küste vor Newcastle upon Tyne erblicken. Mit freudiger Erwartung auf das Kommende verabschiede ich Amsterdam, bleibe noch sehr lange an Deck und lasse mir die salzige Meeresluft ins Gesicht knallen. Es ist schon nach halb acht und die Dämmerung wegen der dichten Regenwolken nicht zu erkennen. Als ich den Hafen nicht mehr sehen kann, gehe ich widerwillig in die Kabine zurück und bin überrascht, noch immer keinen Zimmer-Genossen vorzufinden. Toll, dann habe ich die kleine 2er Kabine für mich alleine. Alles andere wäre auch unvorstellbar für mich gewesen. Es wird Zeit, das Schiff mal genauer unter die Lupe zu nehmen und einen ausgiebigen Rundgang zu starten. Es gibt einen winzigen Supermarkt, ein Kino, mehrere Bars und zwei Restaurants. Sowie einen Kiosk und einen Souvenirladen. Ich kaufe mir im Supermarkt eine Packung Chips, eine Schokolade und eine Cola.
Wieder verdammt teuer hier! Ich schlendere durch die Bars und genehmige mir zwei (ebenfalls sehr teure) Bier, die ziemlich schnell ihre Wirkung zeigen. Bei meinem ausgelaugten Körper wundert mich das nicht. Schnell verliere ich meine Aufnahmebereitschaft für alles und jeden. Daran ist weniger der Alkohol schuld, als vielmehr die Müdigkeit, die wie Blei in meinen Füssen hängt. Erst jetzt, nachdem die Last des ganzen Tages, (die Fähre ja nicht zu versäumen) von mir abfällt, spüre ich, wie fix und fertig ich wirklich bin. Ich habe keine Lust mehr, mit irgendjemand in einen Smalltalk zu verfallen. Mein einziger Wunsch ist nur noch in mein kleines Bettchen zu fallen und die Welt draussen zu lassen. Auf dem Weg zur Kabine verwandeln sich meine Füsse zusehends in Magnete, also ist es mir kaum mehr möglich umzufallen. Wäre ich total besoffen, hätte ich einen unglaublichen Vorteil. Die Kabine ist immer noch leer und ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass das auch so bleiben wird. Und wenn nicht, ist mir das jetzt auch komplett egal. Der Hunger meldet noch seine Vorherrschaft mit lautem Grummeln. Ich mache es mir auf dem Bett so bequem wie möglich, esse noch müde die Chips und die Kekse und dämmere schnell in einen unruhigen Schlaf.

Tag 2
Wie gerädert weckt mich um etwa sieben Uhr der Wecker, und ich spüre jeden Knochen im Leib. Zum Glück bin ich nicht seekrank geworden. Das hätte mir noch gefehlt, die Nacht auf der Kloschüssel zu verbringen. Ich komme nur schwer in die Gänge. Ich trete an die Vorhänge, schiebe sie müde beiseite und drücke mir fast die Nase am Fenster platt.
Die Küste vor Newcastle upon Tyne. Hastig ziehe ich meine Klamotten an und stopfe das bisschen Hab und Gut zurück in die Satteltaschen. Dann lasse ich alles stehen und eile an Deck, um den Einlauf in den Hafen nicht zu verpassen. An Deck strahlt mir blauer Himmel entgegen. Danke Petrus! Nur vereinzelte, zerfetzte Wolken schieben sich träge hin und her.
Ich freue mich wie ein Honigkuchenpferd und atme die frische Brise tief ein. Weil ich mein Motorrad startklar machen will, eile ich in die Kabine zurück.
Es geht zu wie beim Skiurlauber-Schichtwechsel am Samstag vor dem Pfändertunnel. Als wir anlegen, wühle ich mich durch den Ameisenhaufen, der auf den Gängen herumwuselt. Das gesamte Schiff scheint auf den Beinen zu sein und alle wollen anscheinend genau in die entgegengesetzte Richtung von mir. Das tonnenschweres Gepäck geschultert, kämpfe ich mich verbissen bis zum Laderaum durch. Ich bin einer der Letzten, der eintrudelt. Mein festgezurrtes Motorrad steht zum Glück noch. Alle Biker binden ihren Gaul los und fetzen die Gurte und Seile nur noch in die Ecke. Eine Minute später ist auch mein Packesel startklar.
Als sich die Ladeluke öffnet, starten wir gemeinsam die Boliden und es kommt mir vor wie beim Daytona 500.
„Ladies and Gentlemen, please start the engine.”
Wir fahren langsam ins Freie und die meisten bleiben kurz darauf am Strassenrand stehen. Ich will aber unbedingt weiter, keine Zeit mehr verlieren und den Seegang aus den Knochen schütteln. Ich winke allen zu und brause davon.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte die Landkarte noch kurz studiert, denn nach nur zehn Minuten habe ich mich total verfranst und gurke, nichts ahnend wo ich mich eigentlich befinde, durch Newcastle upon Tyne. Die A696 ist unauffindbar.
Das fängt ja schon mal super an! Ich versuche ruhig zu bleiben und wenigstens die Stadt ein wenig zu geniessen. Doch der Linksverkehr und die Ausschau nach Strassenschildern nehmen meine Konzentration sehr in die Zange. Nach einer halben Stunde habe ich einen Ausgang aus diesem Strassengewirr endlich gefunden. Mit einem Freudenschrei heble ich am Gas und brause auf der A696 in Richtung Jedburgh davon. Die Strasse ist ein Traum und lässt mich die Autobahn-Bolzerei endgültig vergessen. Die zügig zu fahrenden Kurven sind nach soviel Autobahn-Kilometern einfach genial. Ein paar Kilometer vor der „Passhöhe“ entdecke ich eine schmuddelige Tankstelle. Jedoch hält sie dem Vergleich „Tankstelle“ nicht wirklich stand. Aber ich habe das dringende Bedürfnis, dem Motorrad noch mal einen auszugeben, um diesmal mit Pfund zu bezahlen. Und wie gut das Tankstellen-Netz hier ausgebaut ist, steht auch noch in den Sternen. Oder in irgendeinem Reiseführer, den ich nicht gekauft habe.
Die „Tankstelle“ entpuppt sich ebenso als Kiosk, Cafe und Imbissbude. Sechs Motorradfahrer trinken gemütlich eine Tasse Kaffee im Stehen.
Nachdem mir das Tanken ohne nennenswerte Probleme gelungen ist, stelle ich das Bike am kleinen Schotterparkplatz ab. Ich gehe bezahlen und bestelle mir auch gleich eine Tasse Kaffee. Er riecht sehr stark und ist es aus. Die Wände sind liebevoll mit uralten Fotos von besseren Zeiten geschmückt, obwohl die Zapfsäulen damals auch schon so schlimm ausgesehen haben. Als ich aus dem Schuppen heraustrete, kommt ein wohlbeleibter älterer Biker auf mich zu. Die Lederjacke spannt sich gnadenlos um seine Hüften. Jetzt verstehe ich auch den Begriff „Presswurst.“ Er quetscht mich wissbegierig aus. Wohin? Woher? Wie lange? Mit meinen angestaubten Englischkenntnissen kann ich die Fragen einigermassen zu seiner Zufriedenheit beantworten. Auf meine Frage hin, wo ich denn die Grenze zu Schottland finde, zeigt er mit einem Lächeln den „Berg“ hinauf. Mein Herz schlägt vor Aufregung gleich schneller. Plötzlich sehe ich mein Motorrad in immenser Schräglage stehen, und lasse den Kaffee beinahe fallen. Mein Bike ist im Schotter regelrecht eingesackt und aus dem Überlauf rinnt fröhlich das Benzin.
Ich benötige immensen Kraftaufwand, um meinen Schwertransporter hochzuwuchten. Das Motorrad scheint beinahe festgeklebt zu sein. Gott sei Dank rolle ich, ohne umzukippen auf festeren Untergrund. Nun trinke ich schleunigst meinen Kaffee zu Ende und mache mich mit einem freundlichen Winken schnell vom schottischen Acker.

Die restlichen paar Kilometer zur schottischen Grenze bringe ich ohne grosse Schräglagen hinter mich, und auf dem „Gipfel“ verschlägt es mir beinahe den Atem.
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Ich könnte heulen vor Glück und der Kloss in meinem Hals lässt sich kaum runterschlucken.
Beim Blick ins weite Tal schmettert mir nur die Farbe Grün entgegen. Soweit das Auge reicht, kräuselt sich das Land wie leicht wogende Wellen eines grünen Meeres.
Gepaart mit hunderten zerfetzten Wolken, die behäbig am stahlblauen Himmel entlang schlendern, drücke ich mir nun doch eine winzige Träne weg.
Nach ein paar Fotos fallen mir erst die vielen Menschen auf, die hier geschäftig herumwuseln.
Ein stattlicher älterer Mann, mit einem prächtigen schottischen Kilt und Dudelsack, bietet sein tolles Aussehen und sein musikalisches Können für ein bisschen Geld an. Leute scharen sich um ihn, und knipsen was das Zeug hält.
Ein kleiner Imbisswagen, der so etwas wie Hamburger verkauft, steht am Rande und ist in eine Wolke aus Fett und Zwiebeln eingelullt. Doch wenn man wie ich grossen Hunger hat, dann zieht einen dieser zwiebelige Wohlgeruch unbarmherzig an. Mein Hunger siegt, ich schlendere zum Imbisswagen und kaufe mir einen „Hamburger“. Er beinhaltet mehr Zwiebeln, als Fleisch, und ich spüle den Geschmack mit reichlich Cola hinunter. Plötzlich entdecke ich ein bekanntes Auto-Kennzeichen. FK – Feldkirch.
Von dort bin ich gestern abgefahren. Wie klein die Welt doch ist.

Dann geht es gestärkt, und mit rumorendem Magen, weiter. Zehn Kilometer später, mache ich in Jedburgh wieder Halt und bestaune die beeindruckende Abteiruine – Jedburgh Abbey.
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Langsam wird es doch ungewöhnlich warm und die Sonne zeigt stolz ihre Kraft. Mein Magen hat sich zum Glück wieder etwas beruhigt. Nicht auszudenken, jetzt mit Durchfall gestraft zu werden. Nach ein paar Fotos zieht es mich weiter, denn die „Hitze“ drückt.
Während mir Schweiss von der Pelle rinnt, schwinge ich mich wieder auf mein Bike, um mir den kühlenden Fahrtwind durch die Ritzen des Lederanzugs zu blasen.
Auf der Suche nach der B6357 komme ich aber schneller wieder ins Schwitzen, als mir lieb ist. Ich fahre wie ein Bekloppter dreimal durch das Städtchen. Fahre nach Denholm und wieder zurück. Ein paar Kilometer raus und wieder nach Jedburgh rein. Ich finde den doofen Weg einfach nicht. Beim letzten, weiteren Zurückfahren aus Jedburgh finde ich ihn endlich. Kein Wunder, das Strassenschild war auch nur von einer Seite aus zu lesen. Ich harre der Dinge, die da noch kommen werden. Nun kann es weitergehen.
Ein gemütliches, schmales Strässchen schlängelt sich durch die tolle Gegend.
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Und nur vereinzelt kommen mir Fahrzeuge entgegen, was die ganze Atmosphäre in ein beruhigendes Ambiente taucht. Das überträgt sich auch auf meinen Fahrstil. Gemütlich lasse ich mich treiben. Das vermaledeite Wetter holt mich aber schnell wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Dunkle Regenwolken. Wo kommen die denn so schnell her? Mein meteorologischer Spürsinn, sagte mir aber besseres Wetter voraus.
Das Städtchen Canonbie empfängt mich sogar mit Nebel und Schnürregen.
Das Wetter ändert sich hier anscheinend so schnell, wie ich zu Hause am Fernseher zappe.
Meine Laune schwankt von der Freude hier zu sein, bis zum Frust, Petrus als Gegner zu haben. Doch ich lasse mich noch nicht entmutigen und den Regenkombi wo er ist. Noch ist es nicht allzu schlimm. Nach dem Dorf Yarrow treffe ich auf den ersten See.
Er liegt schnuckelig eingebettet in einem Wellenmeer aus Hügeln.
Ein einsames Landhaus steht am anderen Ufer, umgeben von einem kleinen Wald. Ich komme nach Dumfries, die grösste Stadt dieser ländlichen und fahre weiter nach New Galloway, um mir dort eine Bleibe für die Nacht zu suchen.
BildEs ist zwar erst gegen 16:00 Uhr, aber ich kann nicht abschätzen, wie lange ich für die Suche nach einem geeigneten Bett brauche.
Dazu kommt noch, dass ich heute über 400 Kilometer unter dem Hintern habe. Ich will mich frisch machen, etwas essen und dann nur noch ausruhen. Voll bepackt mit Eindrücken checke ich in New Galloway im Ken Bridge Hotel ein.

Die Wirtsfrau, eine nette alte Dame, zeigt mir das Zimmer. Überrascht, mich im Schlafgemach meiner Oma wieder zu finden, sage ich sofort zu. Neu ist zwar etwas anderes, aber es hat ländlichen Charme. Und dass es nur ein Gemeinschafts-Bad je Stockwerk gibt, schreckt mich auch nicht ab. Dafür hat es vorhin zu gut aus der Küche geduftet. Das genügt mir, um mich gleich wohl zu fühlen, obwohl ich ein kleines Waschbecken im Zimmer doch ein wenig vermisse. Aber eine Wasch-Schüssel und eine Kanne reichen ja auch. Die Matratze ist drei Nummern zu weich und so dick, dass man glauben kann, es liegt noch jemand darunter. Ich habe einen tollen Ausblick auf die Strasse und den Parkplatz. Ich gehe in den unteren Stock und nehme hastig eine schnelle Dusche. Ich geniesse es, in frische Kleidung zu schlüpfen und mache einen kurzen Spaziergang. An einer alten Steinbrücke bleibe ich stehen und merke beim Anblick des ruhigen Flusses, dass mich Schottland schon in seinen Bann gezogen hat.
Ich habe das Gefühl, hier ist einfach alles schön, und ich werde fast rührselig. Doch mein Magen meldet sich abrupt und zwingt mich augenblicklich zurückzukehren. Ich setze mich im Speisesaal ans Fenster und lege die Landkarte neben mich. Irgendwie fühle ich mich dann nicht so allein und habe einen Gesprächspartner für später.
Ich bestelle ein halbes Huhn mit Pommes (die sehen so schön fettig aus) und ein grosses Bier zum runterspülen. Das habe ich mir wirklich verdient. Das Huhn und die Pommes sind super und vom Bier muss ich gar nicht erst reden!
Nachdem ich meinen Cholesterinspiegel in die Höhe geschraubt habe, widme ich mich der Landkarte. Ich bestelle ein zweites Bier und beginne die morgige Route, die ich sowieso schon auswendig kann, nochmals zu studieren. Um etwa 20:00 Uhr gehe ich müde auf mein Zimmer und bitte vorher noch die Wirtsfrau, mir das Frühstück um 8:00 Uhr fertig zu machen. Der heutige Tag und die zwei Bier haben mich ziemlich weggeputzt, denn wie ein nasser Sack falle ich ins Bett. Nur noch mit allergrösster Mühe schaffe ich es, mich meiner Kleidung zu entledigen und sie in die nächste Ecke zu werfen. In wenigen Sekunden falle ich in einen tiefen Schlaf, so als hätte man mir eine Narkose verpasst.

Tag 3
Um sieben Uhr morgens begrüsse ich den neuen Tag. Körperlich geht es mir ganz gut. Ich genehmige mir eine schnelle Katzenwäsche und stecke mich zügig in die Lederklamotten. Der Blick aus dem Fenster lässt kaum eine Wetterprognose zu.
Dunst am Boden und Wolken am Himmel. Die Sonne ist hier wohl ein Langschläfer.
Ich schleppe mich mit all meinen Packtaschen in den Frühstücksraum, und die Wirtsfrau begrüsst mich mit einem Elan in der Stimme, als wäre sie schon seit Stunden auf den Beinen. Sie fragt mich vergnügt, wie ich geschlafen habe und ich antworte: „Like a rock.“ Sie schmunzelt. Ich sitze noch keine Minute, da tänzelt sie auch schon mit dem Frühstücksteller herein. Er quillt fast über und es streiten sich die Zutaten um die besten Plätze. Ist dies nun das typisch englisch Frühstück, von dem ich gehört habe? Von ungeniessbar, bis hin zu unzumutbar hat man mir erzählt. Gebratene, beinahe schwarze Tomaten, einen Pampf roter Bohnen, ein Paar Leberwürste, die aussehen wie schon mal gegessen, zwei lasche Sandwiches und fast pürierte Champignons.
Die Devise: „Das Auge isst mit“ muss ich hier wohl ausser Acht lassen. Das ist also Breakfast. Ich staune nicht schlecht. Aber es schmeckt besser, als es aussieht. Ich esse alles auf und mir wird nicht einmal übel. Pappsatt zahle ich die Zeche und die Wirtsfrau wünscht mir noch alles Gute, bevor sie wieder in der Küche verschwindet. Vor der Tür empfangen mich schon wieder die ersten Tropfen. Dem anhänglichen Regen entkomme ich hier wohl nicht. Ich krame den Regenkombi wieder hervor und brause nach Norden in Richtung Ayr.
BildIch durchquere nun das grösste Waldgebiet von ganz Grossbritannien. Die landschaftliche Szenerie im Galloway Forest Park offenbart mir mit seinen riesigen Moorflächen und den Nadelbaumpflanzungen eine Naturschönheit, bei der ich sprachlos werde. Aber da mir ohnehin nicht zum Reden zumute ist, macht das nichts. Ich durchpflüge unglaublich viel Landschaft mit sehr wenig Verkehr. Die Dörfer sind allesamt klein und schnuckelig. Als ich Ayr erreiche, schluckt mich erstmals der Verkehr. Stau auf der Durchzugsstrasse!
Eingezwängt wie bei Omas Umarmung zu Weihnachten, gibt es auch hier keinerlei Entkommen. Ich muss mitten hindurch und anscheinend wollen das auch alle anderen. Nach einer halben Stunde zähflüssigem Stop and Go, erblicke ich das Meer. Ich halte an einem kleinen betonierten Parkplatz an und bin der Einzige, der bei Nieselregen auf das Meer starrt.
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Ehrfurchtsvoll blicke ich zum Horizont der sich aber irgendwo in den dunklen Wolken verliert. Nach ein paar Fotos mache ich mich auf die Weiterfahrt. Glücklicherweise beruhigt sich der Regen ein wenig und hört zwischenzeitlich sogar ganz auf, obwohl die dunklen Wolken weiterhin den Himmel wie Russ schwärzen.
BildIch fahre weiter nördlich am Firth of Clyde entlang und entschliesse ich mich kurzfristig mit der Fähre über den Hunters Quay zu schippern. Diese Abkürzung kommt mir gerade recht, weil sich das „gute“ Wetter, schön langsam wieder verkrümelt.
Auf dem kleinen Anlegeplatz gesellen sich drei Auto- und ein Motorradfahrer zu mir, und gemeinsam setzen wir über. In der kurzen Überfahrt, die etwa zehn Minuten dauert, smalltalke ich mit dem Biker. Ich erfahre, dass das Wetter hier eigentlich immer so launisch ist, und wir diskutieren über die Vor- und Nachteile eines Motorrades mit Vollverkleidung. Am Ufer angekommen, verabschiedet er sich von mir und braust zügig davon. Dem schlechten Wetter kann ich heute wohl nicht mehr ausweichen, deshalb hänge ich mich an seinen Hinterreifen, um heute noch so weit wie möglich zu kommen, bevor mich der Regen ganz wegspülen kann.

Loch Eck, der im Argyll Forest Park liegt, ist das Letzte, was ich noch im Trockenen bestaunen darf. Dann sind meine Ausreissversuche endgültig gescheitert. Der See liegt majestätisch vor mir und in seiner spiegelglatten Oberfläche kann ich den Himmel sehen. Es fällt mir schwer, mich von diesem wunderschönen Anblick loszureissen.
Regen! Und was für einer. So was habe ich noch nicht erlebt. Innert Sekunden ist der Hauptwaschgang am laufen. Das Sauwetter spült langsam aber sicher meine gute Laune den Bach runter. Bei schönem Wetter hätte ich an einem der unzähligen Rastplätze Halt gemacht, und meine Füsse im kühlen Nass abgeschreckt. Aber heute muss ich froh sein, wenn sie so lange wie möglich trocken bleiben. Ich habe meinen Regenkombi leider noch nie auf seine Haltbarkeit getestet.
Nach feucht-miesepetrigen 150 Kilometern ist meine Lust, so weiterzufahren, schon ziemlich am Tiefpunkt angelangt. Doch ein wenig geht immer noch. Ich fahre nun über drei Stunden im Regen und meine Zehen haben das Schmatzen gelernt. Das sind jedenfalls keine Schweissfüsse, soviel ist schon mal sicher. Aber noch lasse ich mich nicht unterkriegen.
Eine weitere frustrierende Stunde später komme ich in Fort William an und es ist gerade irgendein Fest am laufen. Wie gerne würde ich mich ihnen anschliessen und meinen Frust und die kalten Zehen einfach wegfeiern. Doch momentan ist mir nicht so recht danach.
Nach über 250 Kilometern, und fünf Stunden im strömenden Regen, sickert das Wasser bereits zu meinem Hintern durch. Sehr entwürdigend.
Jetzt verstehe ich auch den Begriff: „Nass, bis auf die Unterhose.“
Meine Socken sind es jedenfalls schon lange. Ich brauche eine Bleibe – und zwar sofort!
Ich kann nicht mehr, und ich will auch nicht mehr. Das Motorrad würde ich am liebsten im nächsten See versenken. Die gibt es hier ja zur Genüge. Ich würde dann einfach nach Hause schwimmen. Ich passiere die Ortschaft Glenfinnan und 20 Minuten später lacht mir plötzlich ein bunter Hahn aus Blech, am Strassenrand entgegen.
Darunter befindet sich mit roter Farbe von Hand gemalt: BED AND BREAKFAST.
Hier im Nirgendwo, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, gibt es doch tatsächlich noch menschliches Leben. Ein Hoffnungsschimmer, heute doch noch ins Trockene zu kommen.
Ich bin triefnass und dreckig und bleibe unentschlossen stehen. Denn eigentlich will ich hier im Nirgendwo auch nicht wirklich bleiben, zudem die nächste Ortschaft Lochailort noch gut zwei Kilometer entfernt ist. Ich will doch bummeln und mir das kleine Dörfchen ansehen. Ich will mir an Schaufenstern die Nase platt drücken und mir in niedlichen Pubs ein Bier (oder zwei) genehmigen. Also fahre ich zögernd weiter. Geht noch ein wenig? Nach ein paar hundert Metern bleibe ich wieder stehen und frage mich, ob ich mir das wirklich noch antun will. Eine kurze Bestandsaufnahme: meine Socken sind klatschnass, die Unterhose zumindest nicht trocken, mir ist kalt, ich bin hungrig, hab keine Lust mehr, die Schnauze voll,…
Die Frage ist somit schnell geklärt. Ich drehe rasch um, fahre zurück zum Blechhahn und biege in den matschigen Weg ein.

Kurz darauf tuckere ich durch einen riesigen Vorgarten, in dem ein gross angelegter Teich dahindümpelt. Nass bis auf die Knochen, biete ich wohl ein jämmerliches Bild.
Eine Frau mittleren Alters, die bei gewisser Pflege durchaus hübsch wäre, öffnet mir die Tür. Mit aufgesetztem Hundeblick frage ich nach einem Zimmer für die Nacht.
Jetzt abgewiesen zu werden hätte ich kaum verkraftet.
Doch sie nur nickt fröhlich und stellt sich als Maria vor. In ihrem Blick entdecke ich etwas Mitfühlendes, wie bei einer Mutter, deren Kind nach stundenlangem Spielen, durchgefroren, verdreckt und hungrig nach Hause kommt.
Sie führt mich in einen Schuppen, in dem ich meine nassen Sachen aufhängen kann. Es steht so unglaublich viel Unnützes herum, dass es mir so vorkommt, als wäre ich hier auf einem Trödelmarkt gelandet. Da fallen meine nassen und verdreckten Klamotten wenigstens nicht auf. Ihre drei Kinder wuseln neugierig um mich herum. Besonders der etwa fünfjährige Sohn ist an mir interessiert, und bestaunt mich wie einen Ausserirdischen. Er weicht mir kaum von der Seite, ausser wenn er eines seiner Haustiere anschleppt, um sie mir stolz zu präsentieren. Mein Zimmer ist klein, aber fein – und trocken!
Maria zeigt mir ein riesiges Bad mit einer winzig kleinen Dusche, aber ich könnte vor Freude Purzelbäume schlagen.
Als sie mir das restliche Haus gezeigt hat, kehrt langsam Ruhe ein und ich mache es mir in meinem engen Zimmer ein wenig gemütlich. Eine halbe Stunde später zieht es mich zur Dusche und bin erstaunt, wie kühl es hier drinnen ist. Das Lachen vergeht mir komplett, als das Wasser aus der Dusche nicht richtig warm werden will. Ich habe total heiss aufgedreht und trotzdem kommt nur lauwarmes Wasser aus der Brause. Na ja, besser als stinkig in den Klamotten zu bleiben. Somit bin ich ziemlich schnell fertig und trotzdem glücklich, wieder sauber zu sein. Zurück im Zimmer lege ich mich aufs Bett und döse ziemlich schnell weg.
Etwa zwei Stunden später werde ich von der Tochter geweckt, und sie fragt mich, ob ich mit ihnen zu Abendessen will. Und wie ich will!
Mein leerer Magen scheint mit Blei beschwert zwischen den Knien zu hängen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo ich mir heute noch Essen besorgt hätte.
Als ihr Ehemann kommt, werde ich ihm vorgestellt. Peter ist Polizist und geht, wie er mir erzählt, gern in das nächstgelegen Pub.
Hallo?
Gemeinsam sitzen wir im rustikalen Wohnzimmer bei gedämpftem Licht, während Maria in der Küche das Essen zubereitet. Peter quetscht mich neugierig über meine Reise aus. Die zwei Töchter spielen Mühle und der kleine Junge, den ich ins Herz geschlossen habe, tollt mit den Kätzchen herum. Es gibt Spaghetti mit Tomatensosse und Salat. Gemütliches Abendessen mit der Familie. Ich fühle mich pudelwohl. Peter bietet mir an, später noch mit ihm ins Pub zu gehen. Meine Neugier sagt Ja, aber meine Müdigkeit schreit Nein. Also sage ich ihm Vielleicht. Der Abend könnte sonst anstrengend werden. Nach dem Essen schleppe ich mich ins Zimmer, um meinem dicken Bauch eine Auszeit zu gönnen, und meinen schweren Lider die Last etwas abzunehmen.
Dann ist bei mir Filmriss und ich falle in tiefsten Schlaf. Als ich kurz vor Mitternacht ziemlich beduselt erwache und erst nach etlichen Minuten kapiere, wo ich überhaupt bin, will ich nur noch weiterpennen. Ich entledige mich der Kleidung, die ich noch anhabe, ziehe mir die Decke bis übers Gesicht (es ist nämlich arschkalt), und drehe mich um. Ich schätze mal, dass ich keine drei Sekunden später wieder im Land der Träume bin.

Tag 4
Am nächsten Morgen holt mich um sieben Uhr der Wecker unbarmherzig aus dem Bett. Ich habe etwa elf Stunden geschlafen, fühle mich aber gar nicht so. Ziemlich benebelt tröstet mich der Blick aus dem Fenster. Obwohl es bei weitem noch kein Badewetter ist, hat es wenigstens aufgehört zu regnen. Ich krieche in meine noch feuchte Lederkluft, und es ist ein ekliges Gefühl, die zaghafte Körperwärme schon wieder an die Kleidung abzugeben. Normalerweise sollte das umgekehrt sein Ich trotte in die Küche und Maria wuselt schon aufgeregt mit Schlafzimmerfrisur herum und bereitet mein Frühstück zu.
Während ich das üppige Frühstück – wie ich es schon in New Galloway vorgesetzt bekam – in mich stopfe, redet sie beinahe pausenlos. Sie erklärt mir, dass sie mich gestern nicht mehr wecken wollte, als ihr Mann in das Pub ging. Bei ihr klingt das, als wäre er zu einer Expedition aufgebrochen. Vielleicht hat sie sogar recht damit, weil er erst vor zwei Stunden nach Hause gekommen sei. Ich danke ihr für die weise Entscheidung, mich nicht zu wecken. Obwohl mir der Abend mit Peter in dem Pub und danach ein Tag Pause sicher gut getan hätte. Aber vielleicht würde ich jetzt auch halb tot, mit Alkoholvergiftung im Bett liegen. So sind mir die elf Stunden Schlaf doch lieber. Mein straff geschnürter Zeitplan mahnt mich zum Aufbruch. Heute winken mir die Isle of Skye und die heiss ersehnten Northern Highlands.
Ich verabschiede mich von Maria und finde es schade, den Rest der Familie nicht mehr zu sehen.

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Ich fahre am Loch Ailort vorbei, der Himmel lockert langsam auf und zeigt ein kleines Lächeln. Das gibt mir Hoffnung, den Lederkombi heute wieder trocken zu kriegen.

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Kurz darauf strahlt mir am Loch nan Uamh die Sonne kraftvoll entgegen. Ich passiere Arisaig, und etwa 30 Kilometern später komme ich in Mallaig an. Von dort will ich mit der Fähre über den Sound of Sleat tuckern. Ich habe Glück, denn nach nur zehn Minuten Wartezeit, geht es auch schon los. Das ist Timing.
In den 30 Minuten Überfahrt formieren sich die Wolken (wieder mal) zu bedrohlichen Ausmassen und verdrängen die Kraft der Sonne. Die dunklen Wolken gewähren mir keinen Blick mehr auf den Himmel.

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Wir legen in Ardvasar an und ich betrete die Isle of Skye. Die Strasse ist ungefähr gleich wellig, wie es die Überfahrt war. In leichten fliessenden Bewegungen schmiegt sich eine Kurve an die andere. Nach etwa 15 Kilometern bleibe ich bei Dunan stehen und muss mir nun eine knüppelharte Entscheidung abringen.
Umkehr oder Weiterfahrt? Die Inselumrundung durchziehen, oder auf das Festland zurück? Das Wetter zwingt mich zu einer Entscheidung. (wieder mal)
Ich will die gesamte Insel erkunden, habe aber seit gestern das starke Bedürfnis, trocken zu bleiben; um nicht zu sagen, eine richtige Abneigung gegen den Regen entwickelt. Meine Lederkluft entlässt gerade den letzten Rest an Feuchtigkeit, und ich will sie nicht schon wieder tränken. Es ist erst Vormittag, gleicht aber mehr einer Abenddämmerung.
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Wenn ich jetzt umkehre, so kann ich dem Wetter eventuell entkommen, ansonsten stürme ich mitten hinein. Ich bleibe fast eine Viertelstunde stehen und lasse mir graue Haare wachsen. Ich blicke umher und mein Herz blutet. Wilde, faszinierende Landschaft hüllt mich ein. In der Ferne sehe ich vereinzelte Häuser stehen und frage mich, ob ich wieder – wie gestern – an einem einsamen Hof um eine Übernachtung betteln soll. Die Entscheidung fällt deshalb so schwer, weil die schwarze Wolkendecke ab und zu blinzelt und mir schadenfroh ganz kurz den blauen Himmel zeigt. Letztendlich kehre ich mit schwerem Herzen um, nicht ohne dutzend Male zurück zu blicken, in der Hoffnung, die Wolken könnten mit einem Schlag weggewischt sein. Doch diesen Gefallen tun sie mir nicht.

Auf dem Rückweg fahre ich über eine riesige Brücke, die die Isle of Skye mit dem Festland verbindet. Dieser Anblick hebt meine Stimmung wenigsten solange, bis ich mich wieder auf dem Festland befinde. Doch fest entschlossen, mir wenigstens die Northern Highlands nicht vermiesen zu lassen, biege ich bei Kirkton Richtung Norden. Kurz vor Stromeferry empfängt mich dasselbe Spiel, wie vorher in Dunan.
Weiter oder nicht, das ist hier die Frage, die ich mir eigentlich selber beantworten kann.
Der Himmel sieht beängstigend aus, als will er sagen: „Bis hierher und nicht weiter!“
Ich mache eine halbstündige Rast und blicke mit Wehmut nach Norden. Die Northern Highlands sind so nahe, aber ich habe die Nase vom Regen gestrichen voll. Schweren Herzens lasse ich die wunderbare Landschaft im Regen stehen, drehe ab nach Süden und freue mich, wenigstens in den Southern Highlands umherzudüsen. Bei Dornie am Loch Duich stoße ich auf das Eilean Donan Castle, das stolz prahlend dasteht. Die schöne Burg diente der Filmreihe „Highlander“ als imposante Kulisse.
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Es ist wunderschön und wäre in der Abenddämmerung interessant, weil es dann eindrucksvoll beleuchtet wird. Schade, dass ich nicht solange bleiben kann.
Ich brause weiter an den Ufern des Loch Cluanie entlang und entfliehe den vereinzelten Regentropfen. Die kurvenreiche Strasse schmiegt sich direkt an das Seeufer und es ist die reinste Freude, meinem Gaul die Sporen zu geben. Mit zügigem Tempo gleite ich wie ein Wellenreiter dahin. Am Ende des Sees blicke ich zurück und erschaudere ob der tollen Strecke, die ich soeben unter den Reifen glatt radiert habe. Es zuckt mich in den Fingern, umzukehren und die ganze Kurven-Gaudi noch mal zu machen.

Kurz nach Invermoriston stosse ich auf den bekanntesten See in Schottland. Loch Ness. Doch der erste Kontakt mit dem See enttäuscht mich, denn er empfängt mich bei weitem nicht so interessant, wie erhofft. Seine Schönheit ist alles andere als lieblich. Vielleicht fahre ich ja auch am falschen Ufer entlang, denn der See versteckt sich nun die halbe Zeit hinter einer dichten Wand aus Bäumen. Wahrscheinlich hätte sich die kaum genutzte Nebenstrasse am Ostufer mehr gelohnt. Leider ist die A887, auf der ich unterwegs bin, eine Hauptverkehrsstrasse und hier geht es zu wie beim Sommerschlussverkauf. Der starke Verkehr fordert den letzten Rest meiner Konzentration, die ich mir für kurze Blicke auf den See aufheben wollte. Jetzt weiss ich auch, was die zwei Schotten in Amsterdam mit „busy“ meinten. Zu allem Übel ist Nessie mies gelaunt und kamerascheu. Ausser Spesen nichts gewesen. Ich bleibe kurz vor Drumnadrochit am Urquhart Castle stehen, das – angenagt vom Zahn der Zeit – ziemlich trostlos aussieht. Ich finde am überfüllten Parkplatz noch ein kleines Fleckchen und bin froh, mit dem Motorrad hier zu sein. Ein kleiner Turm, etwas, dass aussieht wie ein ehemaliges Haus und etliche Mauerreste, die von allerlei Gras umgeben sind, lächeln mir von unten entgegen. Aber viel gibt es beim besten Willen nicht zu sehen. Doch ein riesiger Menschenwurm, der an der Kasse um Tickets Schlange steht, schreckt mich davor ab, eine Eintrittskarte zu lösen, nur um einen halbzerfallenen Turm und ein paar bröckelige Mauern zu betrachten. Das kann ich vom Parkplatz genauso gut tun. Nachdem ich erst kürzlich das Eilean Donan Castle bestaunen durfte, ist das hier in etwa wie Pudding zu Mouse áu Chocolat. Nach dreissig Sekunden habe ich alles gesehen und fahre etwas enttäuscht weiter. Am Ende von Loch Ness bleibe ich auf einer Anhöhe stehen und blicke zurück: „War das etwa schon alles?“ Ich kann gar nicht glauben, was für einen Ruf dieser See geniesst, aber wie still er vor mir liegt. Sein Geheimnis bleibt auch mir heute verschlossen. Ich habe eigentlich nichts gesehen ausser Touristen.

Nachdem ich Loch Ness hinter mir gelassen habe, erreiche ich kurz darauf Inverness. Hier kann ich endlich das langersehnte Foto von Nessie machen.
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Ich drehe nun in nordöstlicher Richtung ab.
Die Umgebung gleicht einer Steppenlandschaft und nur gelegentlich stehen vereinzelte Baumgruppen wie Oasen in der Wüste. Bei Nairn biege ich wieder rechts in das Landesinnere ab. Hier halte ich mich links und komme ins Spey-Tal. Hier in den umliegenden Gegenden befindet sich eine grosse Konzentration von Whiskey-Brennereien. Immer wieder stosse ich auf Schilder, die auf die Distillerien aufmerksam machen, ansonsten hätte ich viele für ganz normale Bauernhöfe gehalten. Nach gut 90 Kilometern mache ich bei Keith wieder kehrt in Richtung Norden zum Meer. Ich will wenigstens einmal bei meiner Reise am Meer übernachten. In Buckie werde ich schnell fündig. Wieder ist es erst gegen 16:00 Uhr und die gefahrenen 370 Kilometer rechtfertigten kaum das Ende der heutigen Etappe. Aber da ich dem schlechten Wetter heute gut ausweichen konnte, und durch die Zick-Zack-Fahrerei viel gesehen habe, will ich mein Glück nicht weiter ausreizen.

Ein kleines Zimmer ist schnell gefunden, wobei mich die alte Dame, die mir die Tür öffnet, ein wenig mit Argwohn betrachtet. Das Haus – oder das, was ich davon zu sehen bekomme - ist mit allerlei Nippes geschmückt. Die Einrichtung hat nichts Geschmackvolles an sich, sonder gleitet schon eher in das Kuriose ab. Ich habe selten so viel Krimskrams auf einmal gesehen. Ich bin schon äusserst gespannt auf mein Zimmer. Es ist freundlicherweise im 70er Jahre Stil eingerichtet. Ich fühl mich schon wie zuhause.
Ein dunkelgrüner Teppich schluckt so ziemlich alle Flecken, die Nachttischlampen sind im dezenten Retro-Look gefangen und die Vorhänge versprühen ihr oranges Muster in die Welt. Das Doppelbett ist mit Abstand das Beste. Ein Meter hohe Matratzen, die so weich sind, dass ich meine Wirbelsäule jetzt schon aufschreien höre.
Aber es gefällt mir. Ich fühle mich in einer Zeitreise - um Jahrzehnte zurückversetzt.
Sie erklärt mir noch Dinge, die ich im Badezimmer zu unterlassen habe, aber ich höre nicht mehr so richtig zu. Ich bin in Gedanken schon beim Bummeln durch die Gassen. Als sie mich alleine lässt, überprüfe ich, ob genug Decken vorhanden sind, denn gestern habe ich in der Nacht doch ein wenig geschlottert.
Bestens, zwei Decken auf dem Bett und nochmals zwei als Reserve im Schrank. Die finnische Sauna kann losgehen. Das Wasser läuft beruhigend warm aus der Leitung und das Zimmer muss ich nicht als Kühlschrank bezeichnen. Toll!
Meine Sachen knalle ich auf den Boden, ziehe mich schnell um, und mache mich mit Elan an die Erkundung des kleinen Ortes. Die Sonne kriecht hervor und scheint mir ins Gesicht. Endlich kann ich auch mal ein T-Shirt der frischen Luft aussetzen.

Die lange, leicht abfallend Hauptstrasse führt schnurgerade zum Meer, sodass ich die Wellen schon aus etwa einem halben Kilometer Entfernung sehen kann. Ich laufe an den vielen Backsteinhäusern vorbei, die mit ihren unzähligen kleinen Schornsteinen um die Wette prahlen. Vereinzelte Souvenir-Geschäfte, eine Fisch-Schnellimbiss, eine kleiner Supermarkt, ein Restaurant, ein Pub und unzählige andere Geschäfte zeigen sich auf meinem ersten Rundgang. Ich kaufe mir im Supermarkt eine Limo, eine Packung Chips und ein paar Kekse. (Schon wieder.) Mit der Einkaufstüte betrete ich anschliessend „The Fry Inn“, einen Fisch-Schnellimbiss und stehe auch prompt betreten da. Nichts da mit fertigen Brötchen, wie bei McDonalds. Nein, wie bei Subway muss jedes Gericht und jeder Burger selbst zusammengestellt werden. Mit meinem köstlichen Abendessen verziehe ich mich wie ein Penner auf eine kleine Parkbank gleich gegenüber. Mit einem überquellenden Mülleimer daneben, der leise vor sich hinmüffelt, ist mir nach drei Bissen der Appetit vergangen, denn der undefinierbare Fisch will mir nicht so wirklich schmecken. Ich stopfe den Burger in den protestierenden Mülleimer und schieb mir stattdessen ein paar Kekse in den Rachen. Spüle alles mit der ersten Dose Zuckerlimo hinunter und mache mich auf den Weg, um noch etwas am Strand spazieren zu gehen. Vielleicht kann ich dann den fiesen Geschmack, den die Mischung aus Essig-Fisch, Schoko-Keks und E-Nummern-Limo in meinem Mund hervorruft, vergessen.
Doch ein Gewirr aus Zäunen, Fabriken, Mauern und Absperrungen wollen mir den Strandspaziergang vermiesen. Die Suche nach einem Schlupfloch schlägt leider fehl. Ich laufe ein Stück nach beiden Seiten, finde aber kein Durchkommen. Und über eine Mauer kraxeln will ich dann doch nicht. Dann eben kein Meer!
Frustriert kehre ich in die 70er Jahre zurück, um mich mit meiner restlichen Limo, den Chips und den Keksen vor die Glotze zu werfen. Die drei einsamen Sender, die der Fernseher ausspuckt, sind nicht gerade das Sahnehäubchen der momentanen Technologie. Ich habe mir den Abend anders vorgestellt und finde es schade, dass ich dem netten Ort den Rücken kehre, um früh schlafen zu gehen. Aber ich habe kein Bock mehr.

Tag 5
Am nächsten Tag begrüsst mich wieder mal – genau, Nieselregen. Ist ja ganz was Neues. Also einfallsreich ist das schottische Wetter nicht gerade.
Das Frühstück sieht genauso zerknautscht aus, wie die alte Lady in ihrem violetten Frottee-Morgenmantel. In Gesellschaft ihres alten Herrn, der muffelig das müde Gesicht hinter der Zeitung versteckt, mansche ich ein wenig im Essen herum. Doch um bei Kräften zu bleiben, gehe ich frisch ans Werk und esse den Teller leer. Denn nach dem Essig-Salz-Fischburger von gestern, ist das lieblos hergerichtete Frühstück geradezu ein Gourmet-Happen.
Wenigstens hat der Mann soviel Anstand, mich nicht in ein Gespräch zu verwickeln. Die Frau ist so nett, mir während des Essens, auch dezent die Rechnung auf den Tisch zu legen. So verliere ich schon mal keine Zeit. Also rein in den Regenkombi, der Alten eben mal kurz Tschüss gesagt und weg bin ich. Ich werde nicht mal an der Tür verabschiedet. Ein hastig hinterher geworfenes „Good bye“ wird mir von der Küche nachgerufen. Irgendwie gibt sie mir das Gefühl, dass sie froh ist, mich los zu sein. Der Weg führt mich schnurstracks Richtung Süden zurück nach Keith. Von dort schwimme ich gut 130 Kilometer im dichten Durchzugsverkehr der A96 mit, und kann mich kaum daran gewöhnen, plötzlich soviel Blech um mich herum zu haben. Und dann trudle ich in Aberdeen ein.

Ich fahre am östlichen Ufer entlang und kann zu meinem Bedauern nicht mal das Meer sehen. Vom typischen Salzgeruch, der einem in Meeresnähe durch die Nase streift, kann ich nur träumen. Autoabgase und Reifengummigeschmack sind meine Geruchseindrücke.
Und kein Ende in Sicht. So macht das Fahren keinen Spass.
Ich poltere weitere 80 Kilometer auf der Autobahn dahin bis nach Forfar, um ein wenig Meter gutzumachen und meiner Nase wenigstens eine Brise frischen Fahrtwind zu gönnen. Schon morgen muss ich in Newcastle upon Tyne sein, um bei der Fähre einzuchecken und ich befinde mich noch ein gutes Stück im Norden. Ausserdem will ich so schnell wie möglich die Ballungszentren hinter mir lassen.
Als ich den Tay Forrest Park durchfahre, wird die Landschaft kurz ein wenig freundlicher und der Verkehr wieder etwas weniger. Die schöne Landschaft kann meinen Gemütszustand kaum erhellen. Erst der viele Verkehr, dann die grossen Städte und nun auch noch stärkerer Regen. Meine Laune muss schwer kämpfen, um nicht erdrückt zu werden.
In einer Regenpause, in der sogar die Sonne ein wenig hinter den Wolken hervor blinzelt, mache ich in einem kleinen Cafe Rast. Ich bin froh, den Regenkombi wieder auf das Gepäck knallen zu können und meinem verhungerten Adrenalinspiegel ein wenig mit Koffein auf die Sprünge zu helfen. Im Freien sind lauter Bierbänke aufgestellt und ich setze mich zu drei graubehaarten Bikern. Als sie erfahren, dass ich nur auf einer Wochentour unterwegs bin, schmunzeln alle drei. Einer von ihnen deutet auf mein Gepäck und schüttelt den Kopf.
„You’ve got to much luggage.”
Ich runzle mit der Stirn, denn das Wort kommt mir nicht bekannt vor.
Er kapiert, denn er deutet noch mal auf mein Gepäck und sagt: „To much!“, betont er.
Ich nicke. „I know“, antworte ich gequält.
Ich beneide die Drei, weil sie keinen Gabelstapler brauchen, um sich von ihrem Gepäck zu befreien, denn sie haben keines dabei. Schulterzuckend gebe ich ihm Recht und erkundige mich nach der Wettervorhersage. Es soll angeblich besser werden. Das freut mich aber riesig. Jetzt, da ich nach Hause fahre. Sie verabschieden sich mit einem Lächeln und brausen lässig davon. Cool, so ganz ohne Gepäck. Ich lege mir im Kopf eine Liste zurecht, was ich beim nächsten Mal entbehren werde. So gut wie alles, das ist schon mal klar.

Leider bleibt es mir nicht erspart, auf den Weg nach Süden zwischen Glasgow und Edinburgh hindurch zu schlüpfen. Noch mehr Großstadtmief und noch viel mehr Verkehr. Die landschaftlichen Reize nähern sich dem Nullpunkt. Dafür klettert das Thermometer kontinuierlich nach oben, sodass mir langsam der Schweiss aus allen Poren treibt.
In Autoabgase gelullt tuckere ich durch den Verkehr. Kein Fahrtwind, um mich ein wenig abzukühlen. Erst der Regen, nun der Schweiss. Trostlos fahre ich durch die Gegend und mache letztendlich, etwa 40 Kilometer südlich von Edinburgh, in Peebles Halt. Keinen Bock mehr. 515 Kilometer sind genug für heute. Gehörig geschlaucht mache ich mich auf die Suche nach einer Bleibe, habe aber diesmal beim ersten „Bed and Breakfast“ kein Glück. Alle Zimmer belegt. Schade, denn das Haus und die Vermieterin machen einen netten Eindruck. Sie bedauert immer wieder, nichts mehr frei zu haben und ich glaube sogar, dass sie es wirklich ernst meint. Ich mache mich weiter auf die Suche und entdecke kurz darauf eine Villa, die schon mehr einem kleinen Schlösschen gleicht. In Erwartung, ein hübsches Burgfräulein wird mir die Tür öffnen, läute ich. Doch zu meiner Überraschung öffnet mir ein steinalter Greis. Mein Blick wandert prüfend hinter den alten Mann, und ich entdecke nur einen düsteren dunklen Gang, der sich im Nirgendwo zu verlieren scheint. Nicht gerade sehr einladend, aber ich frage ich trotzdem höflich nach einem Bett für die Nacht.
Er sagt mir, dass nur seine Frau die Übernachtungen managt und sie gerade nicht da ist. Ich erfahre, dass seine Frau aus Klagenfurt kommt. Als er erfährt, dass auch ich Österreicher bin, will er alles von mir wissen. Woher, wohin, wie lange, wie alt, warum,…
Ich muss fast lachen über soviel Neugier. Die paar Minuten vergehen dann auch tatsächlich wie im Flug. Als er auf seine Frau deutet, die gemächlich daher schlendert, staune ich nicht schlecht, denn sie scheint noch älter zu sein als er. Aufgeregt erzählt er ihr von meinem Besuch. Sie grinsen über beide Ohren und strahlen eine wirkliche Freude aus.

Als sie mich zu meinem Zimmer führt, bin ich erstaunt, wie viele Möbel noch aus der Biedermeier-Zeit erhalten sind. Die alte Dame schein ihr Haus damit bis zum Bersten voll gestopft zu haben. Ein Museum würde ein Vermögen dafür zahlen. Das Zimmer ist nett. Ein knarrendes Bett, ein altersschwacher Kleiderschrank und eine noch ältere Kommode. Es ist schön, dass hier eine Duschgelegenheit im Zimmer auf mich wartet. So muss ich später nicht halbnackt im Haus umherflitzen, um die Dusche zu suchen. Ich mache es mir im Zimmer gemütlich und teste die Brause auch gleich auf ihre Tauglichkeit. Ich wasche mir genüsslich den gesamten Großstadtmief vom Körper. Da keine Möglichkeit besteht das nasse Handtuch irgendwo aufzuhängen, missbrauche ich kurzerhand die Kleiderschranktür als Wäscheleine.
Geschniegelt und gestriegelt mache ich mich auf die Socken, um Peebles zu erkunden. Antiquitäten-Läden, Delikatessen-Märkte, allerlei Souvenirs und Sonstiges, das ich nicht brauche, lasse ich hinter mir. Eigentlich habe ich nur Hunger und grosse Lust, danach meinen geschundenen Körper in ein kuscheliges Bett zu schmeissen. Also entschliesse ich mich, mir bei einem Italiener, dessen Pizzeria sich an eine Kirche schmiegt, die Wampe vollzuschlagen. Es ist geradezu eine Schande, dass dieses alte Gemäuer, das einer kleinen Burg aus dem Mittelalter ähnelt, für eine Pizzeria missbraucht wird. Ich zwänge mich eine schmale Treppe in den ersten Stock hoch. Nur der Geruch verrät mir, dass ich mich in der Nähe eine Küche befinde, ansonsten würde ich glauben, in ein Turmverlies zu steigen. Als ich eintrete, ist nur eine Familie am Essen, ansonsten ist der gesamte Laden leer.
Ok, es ist ja erst halb sechs. Der grosse Ansturm wird schon noch kommen. Ich bestelle einen gehörigen Humpen Bier und eine Pizza mit viel Zwiebeln und Knoblauch. Ich habe so das vage Gefühl, dass sich heute wohl kein Smalltalk mehr anbahnen wird.
Die Pizza kommt schnell, aber das Essen ist ein wenig frustrierend, obwohl die Pizza und das Bier äusserst lecker sind. Aber es ist schwer, die tausend Gedanken, die in meinem Kopf herumflirren, mit niemandem teilen zu können. Mit einem Gesprächspartner, dem ich das Gewusel in meinem Kopf anvertrauen kann, wäre das Essen gleich noch mal so gut.
So schnell habe ich noch nie eine Pizza verschlungen. Ich verlange nach der Rechnung, als mir sogar noch der letzte Bissen widerspenstig in Richtung Magen schlingert. Mit einem Riesenschluck Bier erleichtere ich dem Happen die Fallgeschwindigkeit.

Kurz nach Sieben liege ich schon im Bett und studiere wieder mal die Landkarte. Morgen muss ich bei der Fähre sein, und diesmal will ich nicht schon um 13:00 Uhr am Hafen stehen.
Es stehen noch ca. 200 Kilometer zwischen mir und der „Prince of Scandinavia.“
Also ungefähr vier Stunden Fahrt. Ich kann mir Zeit lassen.

Tag 6
Frühmorgens wache ich auf und bin ziemlich schnell fix fertig zur Abreise hergerichtet. Ich trotte zum Frühstück. Die Morgenbrötchen strahlen mich genau so wie der Himmel an, der mir stahlblau entgegenlacht. Der Abschied naht und die alte Miss ermahnt mich zur vorsichtigen Weiterreise. Ich starte meinen Boliden und nun hat sich auch noch ihr Mann zum Abschied eingefunden. Sie winken mir lange nach.
Schnell hat mich wieder die Landstrasse geschluckt. Freudestrahlend brause ich durch die Moorfoot Hills und atme die würzige Morgenluft tief ein, die in meinen Helm kriecht.
Ich passiere Galashiels und das Wetter ist einfach herrlich. Die Sonne scheint mir zum Abschied nachzuwinken. Hätte sie sich nicht ein wenig früher um mich kümmern können?
Das tolle Wetter schlägt sich gehörig auf meinen Fahrstil nieder, und ich fahre andauernd zu schnell. Auf diese Art geniesse ich die letzten Stunden auf schottischen Boden noch mal so richtig. Ich überhole hier zügig, lege mich da rasant in die Kurven und gebe dort so richtig Gummi, um die satte Beschleunigung meiner Maschine zu spüren. Eine wahre Freude. Die Landschaft saust nur so an mir vorbei. Die letzten 25 Kilometer geht es wieder auf die Autobahn, wo ich mit dem zähen Verkehr mitschwimme. Ich tanke ein letztes Mal und gönne meinem Bike einen Schluck schottisches Superbenzin. Am liebsten würde ich mir einen Whiskey die Kehle hinunter brennen lassen, denn seit ich hier bin, habe ich mir noch keinen gegönnt. Nur meine Packtaschen sind voll damit. Der Schluck muss also noch warten. Deshalb genehmige ich mir einen starken Kaffee, der mir fast die Schuhe auszieht und finde noch (als Landkarten-Freak) eine original schottische Landkarte.

Auf der Autobahn geht es weiter, und als ich in Richtung Hafen einbiege, ist kurz vor 14:00 Uhr. Auch nicht viel später, wie bei der Anreise. Das kommt von der bescheuerten Bolzerei. Aber da mich die Sonne so gütig anstrahlt, nehme ich es locker und entspanne mich auf dem Grasstreifen, der sich am langen Parkplatz entlang zieht. Acht Wartespuren kleben aneinander, aber nur zwei füllen sich ganz langsam. Als ich gemütlich so im Gras liege und die vergangenen Tage Revue passieren lasse, muss ich unweigerlich an den Tag meiner Ankunft denken. Wie ein pickeliger Rotzlöffel, der den ersten Schultag vor sich hat und weiss, dass die unbeschwerten Lausbuben-Jahre erstmal vorbei sind.
Ich denke an all die Wetterkapriolen, die mich und meine Laune arg in die Zange genommen haben. Wie ich geplante Routen verlassen und neue Wege beschritten, An- und Aussichten gewonnen habe. An all das miese Essen, die hervorragenden Strassen, die atemberaubenden Landschaften. All die Betten, in denen ich meinen Rücken zurechtgebogen habe, zaubern ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Die letzten Tage waren traumhaft, bezaubernd und sogar ein wenig charakterbildend. Ich bin froh und stolz, dass ich hier sein durfte.
BildIch versuche ein wenig zu dösen, aber die Ankunft immer weiterer Leute fordert zusehends meine Neugier. Dann ist es so weit. Der ganze Tross setzt sich, behäbig in Bewegung und wir kriechen langsam zum Kontrollpunkt. Nach hundert Meter wieder dasselbe Spiel: Warten. Ich entdecke ein Schild, auf dem hingewiesen wird, dass die Autos nur mit gereinigten Unterböden passieren können. Die Angst vor BSE ist noch spürbar.
Auf der Fähre verzurre ich das Motorrad und mache mich auf die Suche nach meiner Kabine. Diesmal habe ich keine Angst mehr mit jemanden das Zimmer zu teilen, denn ich habe so viel zu erzählen und wäre froh, meine sprudelnden Gedanken ein wenig los zu werden. Mein Kopf fühlt sich an wie eine geschüttelte Cola-Flasche.
Als ich die Tür zur Kabine öffne, zieht es mir fast die Socken aus.
Es ist eine 4er Kabine, und für mich stellt sie das momentane Paradies auf Erden dar. Ich muss nicht in Embryo-Stellung schlafen, sondern kann mich ausbreiten und mein gesamtes Gepäck auf die anderen Betten verteilen. Sogar wenn noch jemand kommen sollte, ist auch zu zweit immer noch genug Platz zum Fussballspielen.
Ich laufe an Deck, um die Abfahrt ja nicht zu verpassen. Es verzögert sich aber um eine ganze Stunde, weil noch ein paar Bagger um eine Mitfahrgelegenheit heulen. Als wir endlich ablegen, gebe ich meine letzten paar Pence für ein Bier aus. Es bleiben noch zwei Münzen als Andenken in meinem Hosensack. Ich stehe an der Reling, nehme einen riesigen Schluck vom Bier und verabschiede mich dankbar.
Es war eine tolle Zeit und ich schwöre mir in diesem Augenblick wieder zu kommen.
Beim Gedanke an die 4er Kabine kann ich nur sagen: „Na dann, gute Heimfahrt.“

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Re: Ich kam, sah und es regnete

#2 Ungelesener Beitrag von Mimoto »

...Hurra, die Bilder sind drin... :mrgreen:

Lesen tue ich es später aber die Fotos sind schonmal klasse! :D

Grüße
Michael /mimoto

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Doris
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#3 Ungelesener Beitrag von Doris »

Hi!

Flott geschrieben :D , da hat das Lesen einfach nur Spaß gemacht :D

Mehr davon!
Liebe Grüße
von einer, die auszog, die Welt zu entdecken...


Doris


Die Kuh einfach mal (f)liegen lassen

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Balu
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#4 Ungelesener Beitrag von Balu »

Klasse geschrieben!
Schöne Lektüre für die Nachtschicht.
Danke!
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hanslmann
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#5 Ungelesener Beitrag von hanslmann »

Mimoto hat geschrieben:...Hurra, die Bilder sind drin... :mrgreen:
spät, aber doch kapiert.... :D

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vgt1970
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#6 Ungelesener Beitrag von vgt1970 »

Hach, ist das herrlich!
Du hast eine wunderbare Ausdrucksweise, richtig erfrischend und mitreißend.

Warst du ein Jahr später 14 Tage dort?
Gruß
Volker

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hanslmann
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#7 Ungelesener Beitrag von hanslmann »

vgt1970 hat geschrieben:Hach, ist das herrlich!
Du hast eine wunderbare Ausdrucksweise, richtig erfrischend und mitreißend.

Warst du ein Jahr später 14 Tage dort?
Erst mal vielen Dank für das grosse Lob. :D
Nein, leider nicht. Bin seitdem nicht mehr in Schottland gewesen.
Hoffe, es klappt mal, dass ich mit meiner Frau dorthin komme.

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Mimoto
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Re: Ich kam, sah und es regnete

#8 Ungelesener Beitrag von Mimoto »

Wau, ganz großes Kino :!:

Deine bildhafte Sprache ist Traumhaft, hatte keinerlei Mühe den vielen Text zu lesen.
Deine Erlebnisse, Emotionen kamen richtig gut rüber, ich denke viele von uns habe es mit eigenen
Erfahrungen hier und da gut nachvollziehen können. Was mir besonderes gefällt, es waren ja alles
andere als ideale Bedingungen, da waren ja wirklich quälende Momente dabei aber dennoch diese
Dankbarkeit und Freude an dem Erlebten wie Du sie zum Schluss äußerst, mir geht es so wenn ich
lang gehegte Träume verwirkliche, da kann die Welt bei untergehen wenn ich sie Erlebt habe bin
ich überglücklich.

Danke dafür! :)

Viele Grüße
Michael /mimoto

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