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Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Freitag 14. Oktober 2016, 09:08
von steinmeister
Festgemauert in der Erde steht die Diva unbewegt,
und ich habe Kopf und Hände frei, um nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Ein Hebel zum Anheben des Hinterrades ist schnell gefunden. Vielleicht lässt sich der Reifen mit griffigerem Material unterfüttern…

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Nein, es grippt nicht.
Das bisschen Restprofil setzt sich auch schnell zu.
Jetzt wäre es wohl besser, ich hätte den neuen Reifen auf der Felge statt auf dem Topcase.

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Am Ende bleibt nur eine Möglichkeit:
Ich befreie die Maschine von ihrer Gepäcklast,
stelle mich hinter sie in den braunen Brei und wuchte sie mit einem Kampfschrei aus dem Loch, das sie sich gegraben hat.

Im Nachhinein stelle ich fest: Eigentlich war es gar nicht so schwierig.

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Die nächsten Kilometer lassen sich ganz gut bewältigen, und bald bin ich wieder auf fester Straße unterwegs.
Allerdings habe ich jetzt einen anderen Blick auf den ukrainischen Trend zu robusten Zweitwagen.
In den abgelegeneren Dörfern jenseits der großen Transitstraßen sieht man sehr viele allradgetriebene Ungetüme der Marken SIL, KRAS, Kamas und URAL, meistens ältere Baujahre und immer in Olivgrün.

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(Wer an der Geländegängigkeit dieser Kisten zweifelt, der kann sich ein paar Videos zum Thema angucken.
http://www.youtube.com/watch?feature=pl ... K7IM#t=78s" onclick="window.open(this.href);return false;
http://www.youtube.com/watch?feature=pl ... Sdf8#t=29s" onclick="window.open(this.href);return false;
http://www.youtube.com/watch?v=5RVptjzP ... re=related" onclick="window.open(this.href);return false;


………………….



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Es ist kein Problem, mit Ukrainern ins Gespräch zu kommen.
Kaum, dass ich in einem Dorf angehalten und die Maschine abgestellt habe, werde ich angesprochen.
Meistens von Männern, die mich über das Motorrad ausfragen.
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Wieviel Liter Hubraum hat es?
Als ich es sage, gucken sie eher enttäuscht.
Was kostet so ein Reifen? Nicht in Euro – in Dollar!
Wie alt ist dein Motorrad?

Eto staraja maschina, sage ich. Das ist ein altes Motorrad – fast 10 Jahre alt.
Die Leute brechen unisono in schallendes Gelächter aus.
Otschen nowaja! sagen sie.

Und dann wollen sie natürlich mal darauf Platz nehmen, um sich gegenseitig mit dem Handy zu fotografieren.
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Das erste, was man von einem Dorf sieht, sind in der Regel die leuchtenden Kuppeln der Kirche.
Wie ich später erfahre, haben viele Sakralbauten die kommunistische Ära nicht überlebt. Vor allem die Menschen auf dem Land investieren jetzt viel, um sich Gotteshäuser neu einzurichten.
Auch wenn die Häuser mitunter in nicht sehr gutem Zustand sind – eine heruntergekommene Kirche habe ich nicht gesehen, dafür aber viele Neubauten.
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Die Holzformen, die nötig waren, um die schön geschwungenen Bögen zu mauern, verrotten am Rande des nahegelegenen Flusses….
Eine geregelte Müllabfuhr gibt es nicht. Aber diese Gegend ist wohl noch nicht von der Großen Konsumwelle überflutet worden, so dass die Müllhalden an den Dorfrändern eher unauffällig klein sind.
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Es gibt nicht viele Straßen über die Ukrainischen Karpaten.
Auf Transitstraßen mit ihrem Schwerlastverkehr habe ich keine Lust.
Also suche ich mir eine etwas kleinere Straße aus.
Aber immerhin eine mit Nummer!
„Fahren Sie 71km auf der T 0721!" säuselt mir Frl. Garmin hypnotisierend in’s Ohr. Dein Wille sei mir Befehl.

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Ja, das sieht gut aus: gepflegter Schotter.
Wenn das so bleibt, dann dürfte die Distanz in ca. anderthalb Stunden zu schaffen sein.
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Sicherheitshalber frage ich einen Bauern, der am Ende des Dorfes seine Kuh in die Natur entlässt, ob die Straße so gut befahrbar bleibt.
Klar, sagt er, mit dem Motorrad kannst du da langfahren.
Also mache ich mich gutgelaunt auf die Strecke und freue mich auf Landschaft und Offroad-cruisen.
Das Wetter ist herrlich, der Tank ist voll – was soll passieren?

Okay, wenn mal ein paar Meter etwas anspruchsvoller sind, ist das auch nicht weiter schlimm.
Hier gibt es einen Pfad, auf dem man die Löcher umfahren kann.
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Der Pfad endet da, wo auch die letzten sichtbaren Pflasterreste der T0721 verschwunden sind.
Aber hinter der nächsten Biegung wird es bestimmt wieder besser.

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Oder doch nicht. Aber jetzt habe ich es bis hierher geschafft, da werde ich doch nicht umkehren.

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Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 12:31
von netter Mann
Klasse! :L

Als ich lesend Deinen Grenzübergang begleitete, bekam ich nen dicken Hals! Was für eine Willkür. Und jede/r will wichtig und wichtiger sein.
Hätte ich den Grenzübergang jedoch de facto selbst überqueren müssen, hätte ich mir wahrscheinlich in die Hosen gemacht. :D

Allergrössten Respekt vor Deinem Entschluss, solche Strecken, Wege, Geröllpfade allein zu bewerkstelligen. Ist schon eine echte Hausnummer.

Ein Gutes beim Lesen solcher verrückten Unternehmungen ist für mich immer, dass ich zwar mitbange, letztlich aber doch weiß, dass der Autor wieder heil nach Haus gekommen sein muss. Sonst könnte ich ja seinen Bericht nicht lesen.

Hmm, bin wohl zu empathisch. Ich fürchte, bange, grusele immer gleich mit. :mrgreen:

Bitte weiter erzählen! :D

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 13:03
von Mimoto
..kenne einen Reisebericht aus dem östlichen Europa da waren sie auf solchen "Straßen" mit Straßenreifen unterwegs.
Übel, übel aber eine tolles Abenteuer.
Sehr schöner Reisebericht und beeindruckende Landschaftsaufnahmen. :L

Grüße

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 13:24
von CrazyPhilosoph
Prima!

Schade das Du kein Foto von den Grenzmädels hast :lol: .

Trotzdem weitermachen bitte :L :-)

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 13:35
von klauston
netter Mann hat geschrieben:Klasse! :L

Als ich lesend Deinen Grenzübergang begleitete, bekam ich nen dicken Hals! Was für eine Willkür. Und jede/r will wichtig und wichtiger sein.
Hätte ich den Grenzübergang jedoch de facto selbst überqueren müssen, hätte ich mir wahrscheinlich in die Hosen gemacht. :D


Bitte weiter erzählen! :D
Ach, das muß man mit Humor nehmen.

Ich hab mit den Letten bei der Rückreise in die EU schon unangenehmere Erfahrungen gemacht.

Die sind wirklich übel und großkotzig drauf.
Und das ist was, das hab ich schon von vielen REisenden gehört die selbst dort waren.

Die Grenzen im Osten sind eine eigene Sache, das dauert halt, ist aber immer so....
Viele davon sind aber schon sehr professionell.

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 14:57
von 2wheeler
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das sind dann so die Wege wo der Mut des Ritters, in Richtung Sitzbank zakt.

Tolle Reise bisher :L :L bin auf die Fortsetzung gespannt.

:mrgreen:

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 15:29
von steinmeister
Nein, umgekehrt wird nicht!
In ca. 3km Luftlinie liegt jenseits des Kammes das nächste Dorf, das heute den schönen Namen Komsomolsk trägt.
Früher hieß dieser Ort Deutsch-Mokra.
Er wurde vor über 200 Jahren von Arbeitern aus dem Salzkammergut gegründet und ist bis heute eine deutsche Sprachinsel.
Die paar Kilometer müssen doch zu schaffen sein!

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Aufgeben? Dann müsste ich ja diesen Schlammweg wieder zurückfahren. Noch dazu bergab!

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Ich gebe auf!

Beim Versuch, auf einem ebenen Stück Wiese zu wenden, beschließt auch die Diva, sich ein Weilchen aufs Ohr zu legen.


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Ich entledige mich meiner Kluft, wringe mein T-Shirt aus und befreie dir Dickstrom vom Gepäck, damit ich sie hangaufwärts wieder aufrichten kann.

Dann genieße ich die Aussicht und feiere Siesta, bevor ich mich auf den Rückweg mache.

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Nachdem ich wieder auf halbwegs gut befahrbarer Straße stehe, kann ich über meinen Abstecher ins schwere Gelände resümieren:
In zwei Stunden habe ich ungefähr drei Kilometer geschafft.


......................
Ende.

Re: Ein Tag im Leben der Ukraine (2012)

Verfasst: Mittwoch 19. Oktober 2016, 15:38
von steinmeister
Nachtrag:
Das ist nun schon ein paar Jährchen her.
Hinterher gab es Diskussionen, dass die V-Strom nicht für solches Gelände gebaut sei usw.

Aber darum geht es mir nicht.
Ich will wissen, wie weit ich komme.
Und zwar mit genau dem Motorrad, das ich gerade zwischen den Beinen habe.

Ich bin überzeugt: Auch mit einer Vespa kann man grandiose Abenteuer erleben.
Wenn man sich drauf einlässt.

Aber darauf haben mimoto und Klauston ja auch schon hingewiesen. :)